Niederadel im Wandel*
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von Gerhard Ermischer

Nicht nur große Burganlagen wie die Henneburg bei Stadtprozelten bestimmen die Kulturlandschaft Spessart.Die Ketzelburg in Haibach steht im Spessart nicht alleine da. Die Forschungen der letzten Jahre haben gezeigt, dass es im Spessart eine große Zahl vergleichbarer, kleiner, hochmittelalterlicher Burganlagen gegeben hat. Dies widerspricht dem gängigen Klischee dieser Landschaft als menschenleerer Einöde und zeigt, dass sie schon vergleichsweise früh weitgehend erschlossen, besiedelt und wirtschaftlich genutzt wurde. Der Ketzelburg als erster, eingehend untersuchter Anlage kommt eine besondere Bedeutung bei, lassen die Ergebnisse der Grabungen hier doch Rückschlüsse auf vergleichbare Burgen in ganz Unterfranken zu.

Burgställe haben in der Vergangenheit nur wenig Aufmerksamkeit erfahren, sind die Überreste der hochmittelalterlichen Niederadelsburgen doch wenig spektakulär und im weitgehend wieder bewaldeten Spessart nur schwer zu erkennen. Auch liegen sie oft abseits der heute die Region maßgeblich prägenden Durchgangsstraßen und Orte. Später errichtete, eindrucksvollere Baudenkmäler bestimmen unsere Wahrnehmung von der Kulturlandschaft. Was auf den ersten Blick ein Manko zu sein scheint, hat letzten Endes die Erhaltung der Reste begünstigt und erlaubt, wie im Falle Haibachs, einen einzigartigen Einblick in das Leben des Hochmittelalters, eben weil die Spuren der Burganlage nicht durch spätere Überbauung gestört und überdeckt wurden.

Gleichzeitig gibt dieser Umstand auch einen Hinweis auf die Funktion und die historische Einordnung der kleinen Burganlagen des Hochmittelalters. Sie wurden allem Anschein nach recht schnell erbaut, nur während einer kurzen Zeitspanne genutzt und danach wieder aufgegeben. Die Burgställe wurden häufig später nicht wieder bebaut. Dies lag zum einen daran, dass viele der Anlagen nicht an strategisch herausragenden Punkten angelegt wurden, wie etwa an bedeutenden Fernhandelsstraßen, Wegkreuzungen oder militärisch besonders gut zu verteidigenden Plätzen, zum anderen eigneten sich die gewählten Bauplätze zwar oft zur Anlage einer kleinen Burg, nicht aber zum Ausbau einer großen Befestigung.

Von zahlreichen Niederadelsburgen im Spessart haben sich – wie auf der „Alten Burg“ auf dem Reuschberg bei Schöllkrippen – kaum noch nennenswerte Spuren der ursprünglichen Wehranlage erhalten.Diese hochmittelalterlichen Burgen entsprachen nicht unserem üblichen Bild der „Ritterburg“, wie sie im Wesentlichen im Spätmittelalter entstand und im 19. Jahrhundert romantisch überhöht und verklärt wurde1. Es sind vor allem die in dieser Zeit der Romantik, der deutschen Einigungsbewegung nach dem Deutsch-Französischen Krieg von 1870/71 und des Nationalismus restaurierten oder ganz neu errichteten Burgen, die unser Burgenbild bis heute prägen. Allen voran – aus Bayerischer Sicht – die Fantasieburgen König Ludwigs II. von Bayern, besonders die Burg Neuschwanstein. Dieser romantische Traum einer Märchenburg diente Walt Disney als Vorbild für seine Vision von „Cinderella“. Unsere hochmittelalterlichen Burgen waren nicht durch und durch aus Stein gebaut, sondern in erster Linie aus Holz und Lehm. Sie waren geprägt von stroh- und schindelgedeckten Fachwerkbauten, Grubenhäusern und hölzernen Palisaden. Selbst für die damalige Wehrtechnik stellten solche Anlagen keine mächtigen Festungen dar. Sie konnten in größeren militärischen Auseinandersetzungen keine Rolle spielen2. Einem Angriff mit Belagerungsgeräten wie Ballisten (Steinschleudern), Rammböcken und Belagerungstürmen waren sie nicht gewachsen. Brandpfeile stellten eine tödliche Bedrohung für sie dar. Ihre Funktion muss sich also wesentlich von großen Burgen unterschieden haben, wie sie ab der Mitte des 13. Jahrhunderts mehr und mehr auch im Spessart errichtet wurden.

Bei den von uns behandelten Burgen handelte es sich im Wesentlichen um feste Häuser, „Verwaltungszentren“ für einen kleinen Raum. Ihre geringe Größe erlaubte eine eher dürftige Selbstversorgung mit dem Allernötigsten. Herrensitz und Wirtschaftshof bildeten eine Einheit. Die Kontrollfunktion der Burg beschränkte sich auf ihre unmittelbare Umgebung. Es war eine Kontrolle über die Bauern und Hintersassen sowie über lokale Verkehrswege und Märkte. Trotzdem müssen auch diese Burgen als Landmarken für territoriale Herrschaftsansprüche gesehen werden, seien es die Ansprüche übergeordneter Auftraggeber oder der unmittelbaren Erbauer der Burg.

Dass aus Holz errichtete Niederadelsburgen nicht nur im Spessart standen, zeigt die Rekonstruktion der etwa zeitgleichen Anlage in Halton, Bowland (GB).Der Bau dieser kleinen Burganlagen fällt im 12. Jahrhundert in eine Zeit politischer und gesellschaftlicher Veränderungen. Bewohner der Burgen waren Niederadlige, meist sogenannte Ministerialen, also Unfreie die im Auftrag von Angehörigen des Adels oder des Landesherren als Verwalter dienten3. Diese Ministerialen strebten nach einem gesellschaftlichen Aufstieg in den Adel, so wie die Mitglieder des Hochadels nach der Reichsunmittelbarkeit, also einer direkten Unterstellung unter den König bzw. Kaiser und damit der Unabhängigkeit von ihrem jeweiligen Landesherren strebten, und die Landesherren, die Fürsten und Fürstbischöfe, sich um größere Souveränität und Unabhängigkeit vom König bemühten. Die Aufgabe der kleinen Burgen im Spessart markiert einen Wendepunkt, an dem sich zumindest das Schicksal vieler Ministerialer und Niederadliger entschied. Offensichtlich war es den meisten von ihnen nicht gelungen, den angestrebten Aufstieg zu verwirklichen. Ihre Funktion veränderte sich, soweit die Familien nicht ausstarben. Es scheint, dass viele der Ministerialen und Niederadligen im 13. Jahrhundert aus dem Spessart in die Städte zogen, vor allem nach Aschaffenburg, was zu einer ungewöhnlich hohen Dichte von Adligen in dieser Stadt führte. Viele Namen der Adligen hier erinnern an Ortsnamen im Spessart, doch maß man dem früher nur wenig Beachtung bei. Schließlich war es ja allgemein bekannt, dass der Spessart im Hochmittelalter weitgehend siedlungsleer war – wie sollten die Adligen also im 13. Jahrhundert aus dem Spessart kommen? Hier haben die Forschungen der letzten Jahre gezeigt, wie falsch dieses Bild vom öden Spessart ist. Es scheint damit keineswegs abwegig, tatsächlich in den erwähnten Namen von Adligen, wie etwa den Wasen, Wallstadt oder Erlenbach4 in Aschaffenburg ihre Herkunft aus dem Spessart zu vermuten.

Einer solchen Belagerung, wie sie auf dem Relief aus Carcassonne (F) zu sehen ist, konnten nur die wenigsten Spessartburgen standhalten.Diese Entwicklung spiegelt sich auch in den Stadtkerngrabungen der letzten Jahre in Aschaffenburg wider. Die Funde der Grabungen auf dem Theaterplatz und an der Dalbergstraße weisen auf einen hohen Anteil adliger Bewohner in Aschaffenburg hin. Dies deckt sich mit den schriftlichen Quellen. Auf dem Theaterplatz konnten die Häuser von Adligen und Stiftsherren ebenso wie die Werkstätten von Handwerkern aufgedeckt werden. Reitersporen und Waffen zeugen von adligen Herren, Glasgefäße, importierte Keramik, Schmuckstücke und vergoldete Appliken für kostbare Gewänder vom Reichtum der Bewohner. Ein Waffenschmied stellte zu Beginn des 12. Jahrhunderts durchbrochene Ortbänder als Beschläge für Schwertscheiden her – Handwerker und adlige Kunden lebten hier in nächster Nähe zueinander. Aufgrund der Ausgrabungen in Aschaffenburg müssen wir auch unsere Vorstellungen von den unüberbrückbaren sozialen Unterschieden zwischen Adeligen und Bürger relativieren. Die Adligen lebten – wie auch die benachbarten Handwerker – bis ins 13. Jahrhundert vor allem in aus Holz gebauten Häusern. Anfänglich waren dies Bauten mit massiven Pfosten, später dominierten Fachwerkhäuser, teilweise mit leichten, gemauerten Streifenfundamenten. Nur an der Pfaffengasse fand sich gleich eine ganze Reihe von Steinbauten aus dem 12. Jahrhundert. Am Beginn der Errichtung solcher in jeder Form repräsentativen, steinernen Häuser stand das sogenannte Stäblerhaus, das im Zweiten Weltkrieg schwer beschädigt und 1953 abgerissen wurde. Bei den Grabungen konnten zwei weitere Steinhäuser festgestellt werden. Dabei handelte es sich um Kurien von Stiftsherren. Es waren also die geistlichen Herren, die in den modernsten und teuersten Häusern logierten.

Auf der ganzen Fläche des Theaterplatzes konnten massive Planierungsarbeiten festgestellt werden, die Anfang des 12. Jahrhunderts das Aussehen der Fläche drastisch veränderten. Durch meterhohe Aufschüttungen an tiefer gelegenen Stellen und Abtragung von Material in höheren Bereichen wurde eine eben Fläche geschaffen, die sich ideal zur Neubebauung eignete. Eine Bauinschrift am Döngestor, einem Stadttor nahe der heutigen Löwenapotheke, berichtet von der Erneuerung der Stadtbefestigungen durch Erzbischof Adalbert I. zu Beginn des 12. Jahrhunderts. Berücksichtigt man auch noch die planmäßig anmutende Bebauung mit einer Reihe von Steinhäusern durch das Stift an der Pfaffengasse, nahe der Stadtmauer, so kann man hier eine weitreichende städteplanerische Neugestaltung im Kernbereich der Altstadt annehmen5. Worin lagen die Ursachen dieses tiefgreifenden Wandels, der letztlich jenes Stadtbild hervorbringen sollte, das bis heute den Charakter der Metropole am Untermain ausmacht? Hier äußert sich das große Interesse der Mainzer Erzbischöfe an Aschaffenburg und unserer Region. Auch die Ketzelburg in Haibach muss im Kontext der historischen Ereignisse des 12. Jahrhunderts gesehen werden: Dieses historische Umfeld soll hier kurz umrissen werden.

Erzbischof Adalbert I. (1110–1137), der die Befestigung Aschaffenburgs erneuern ließ, war ein machtbewusster Vertreter seines Standes. Er lebte in der Hochzeit des Investiturstreites, jener Auseinandersetzung zwischen Kaiser und Papst, in der es vordergründig um die Frage ging, wer das Recht hatte neue Bischöfe einzusetzen. Dahinter steckte ein verbissener Kampf um die Vormacht im Abendland: sollte die Kirche oder die weltliche Macht Vorrang besitzen? Adalbert unterstützte den Papst gegen den Kaiser Heinrich V., der seinerseits die Probleme des eigenen Vaters mit der Kirche genutzt hatte, um vorzeitig an die Macht zu kommen. Diese Machtkämpfe wurden keineswegs nur mit politischen Mitteln ausgetragen, sondern häufig auch mit Gewalt. Adalbert hatte also allen Grund, das Zentrum seiner weltlichen Macht vor Angriffen zu schützen. Schließlich tummelten sich unter dem Schild der beiden großen Fraktionen genügend Fürsten und Adlige, die jede Gelegenheit wahrnahmen, ihren eigenen Besitz auf Kosten von Anhängern des gegnerischen Lagers zu vergrößern. Adalbert bewies in diesen Wirren großes Geschick. Nach dem Tode Heinrichs V. 1125 unterstützte er einen Außenseiter, Lothar von Supplinburg, gegen den designierten neuen römisch-deutschen König, den Staufer Friedrich, genannt der Einäugige, Herzog von Schwaben, Vater des späteren Kaisers Friedrich I. Barbarossa (1122–1190, Kaiser seit 1155). Es gelang ihm die Wahl in seine eigene Residenz Mainz zu verlegen. Dort versammelte er die geistlichen Fürsten mit Lothar von Supplinburg in der Stadt, während für die weltlichen Fürsten mit Friedrich von Schwaben ein Lager auf der anderen Rheinseite eingerichtet wurde. Nach verschiedenen diplomatischen Ränkespielen wählten die geistlichen Fürsten Lothar zum König, salbten und krönten ihn mit den Reichsinsignien, die Erzbischof Adalbert im Handstreich an sich gebracht hatte. Den weltlichen Fürsten blieb letztlich nichts anderes übrig, als die Wahl anzuerkennen. Damit hatten die geistlichen Fürsten erstmals eine Königswahl entschieden und Erzbischof Adalbert hatte den Grundstein für die Vorrangstellung der geistlichen Fürsten, insbesondere des Mainzer Erzbischofs, in der weiteren Entwicklung des deutschen Wahlkönigtums gelegt.

In der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts erhielt Aschaffenburg sein erstes geschriebenes Stadtrecht. Es war dies eine überaus bewegte Zeit, geprägt vom Kampf um die Vormacht zwischen Kaiser und Papst. Auch unter Kaiser Friedrich I., dem legendären Friedrich Barbarossa, spielten die Mainzer Erzbischöfe als Reichskanzler eine entscheidende Rolle. So versuchte Erzbischof Arnold 1160 eine Sondersteuer zu erheben, um seine aufwendigen Verpflichtungen im Dienste des Kaisers zu finanzieren. Die Mainzer jedoch beriefen sich auf ein Privileg Erzbischof Adalberts I. und verweigerten die Zahlung der Steuer. Es entwickelte sich ein Aufstand, in dessen Folge Erzbischof Arnold von aufgebrachten Bürgern erschlagen wurde.

Um seine Nachfolge bewarben sich Konrad von Wittelsbach und Christian von Buch. Konrad konnte sich die Unterstützung des Kaisers sichern, zu dem Christian damals in keinem guten Verhältnis stand. So konnte sich Konrad zunächst durchsetzen. Als 1165 jedoch Kaiser Friedrich Barbarossa Paschalis III. als Gegenpapst gegen Papst Alexander III. einsetzte, mit dem er in ständigem Streit lag, weigerte sich Konrad den Gegenpapst anzuerkennen. Friedrich setzte ihn darauf ab und Konrad musste schließlich fliehen. An seine Stelle trat Christian von Buch, der inzwischen ein sehr enges Verhältnis zum Kaiser aufgebaut hatte. In diesem Konflikt stellte sich Aschaffenburg mit den meisten Städten und dem Adel des Erzstifts Mainz auf die Seite Christians, während das Domkapitel zu Mainz Konrad unterstützte. 1177 machte Konrad seinen Frieden mit dem Kaiser, verzichtete auf das Erzbistum Mainz und erhielt im Gegenzug das Erzbistum Salzburg.

Als Christian von Buch 1183 starb, nachdem er den größten Teil seiner Regentschaft auf Kriegszügen und diplomatischen Missionen in Italien verbracht hatte, gelang es Konrad sich erneut als Erzbischof von Mainz und Reichskanzler zu etablieren. 1184 hielt er einen glänzenden Hoftag in Mainz ab, danach zog er mit dem Kaiser nach Verona, wo sich Friedrich Barbarossa mit dem neuen Papst Lucius III. traf, der die Zeit der Gegenpäpste beendete. Dort wurde von Lucius III. auch das Privileg für das Stift St. Peter am 21. Dezember 1184 unterzeichnet, wobei Erzbischof Konrad als Zeuge mit unterschrieb6.

Konrad sollte noch bis zu seinem Tod im Jahr 1200 sehr erfolgreich in Mainz regieren. Eine wesentliche Aufgabe sah er dabei darin, die von seinem Vorgänger verpfändeten Güter wieder auszulösen. Auch Christian von Buch hatte große Geldsummen zur Finanzierung seiner Tätigkeit als Reichskanzler benötigt. Zu neuen Steuern zu greifen musste ihm nach der Ermordung Erzbischof Arnolds unratsam erscheinen, auch hatten ihn die Städte in seiner Auseinandersetzung mit Konrad von Wittelsbach unterstützt. Es wäre also unklug gewesen, die Bürger zu verärgern, zumal Konrad ja erst 1177 offiziell auf seinen Anspruch verzichtete. Daher beklagte Konrad, als er 1183 erneut Mainzer Erzbischof wurde, sicherlich nicht zu Unrecht, wie viele Güter und Rechte der Kirche verpfändet und entfremdet worden seien. In einem Dokument beschreibt er auch, dass er eine Burg vor den Toren von Aschaffenburg zerstören habe lassen, die eine Gefahr für die Herrschaft des Erzbischofs darstellte. Es ist an anderer Stelle in diesem Buch bereits auf diese Erwähnung ausführlich eingegangen worden und es wäre müßig, hier weiter darüber zu spekulieren, ob mit dieser Burg die Ketzelburg gemeint sein könnte oder nicht. Wichtig ist hier jedoch der historische Kontext, in dem die Auseinandersetzungen zwischen Landesherren und Adel deutlich werden, ein Streit um Vormacht und Unabhängigkeit, in dem auch die Bewohner kleiner Burgen einbezogen waren – sei es als Parteigänger des Kurfürsten und Erzbischofs oder eines seiner Gegner, sei es, weil sie selbst auf einer niedrigeren Ebene nach Unabhängigkeit und Selbständigkeit strebten.

Es war jedenfalls im Zuge dieser Auseinandersetzungen zwischen Hochadel und Landesherren, in denen die niedrigen Adligen sich aus dem Spessart zurückzogen und ihre neue Wohnstatt etwa in Aschaffenburg nahmen. Der Konflikt wird im 13. Jahrhundert durch die Auseinandersetzung der Grafen von Rieneck, die ihrerseits aus dem niederrheinischen Hochadel stammten, und den Erzbischöfen von Mainz dominiert. Diese Herren erbauten gewaltige Burgen, wie die Residenz der Mainzer Erzbischöfe in Aschaffenburg, die Johannesburg, oder die Stammburg der Rienecker. Sie errichteten militärische Anlagen, wie etwa die Rienecker die Wildenburg oder die Burg Landesehre, die eine wichtige Rolle in den militärischen Auseinandersetzungen spielte. Die Zeit der kleinen Burgen im Spessart war vorbei, die neuen Burgen entstanden an strategisch wichtigen Punkten, vor allem entlang des Mains, als Lebensader der Region und wichtigstem Fernhandelsweg. Diese Entwicklung war eine Folge wirtschaftlicher, gesellschaftlicher und technischer Entwicklungen. Die kleinen Niederadelsburgen wurden nicht erstürmt und verbrannt, sie hatten ihre Funktion überlebt und wurden aufgegeben.

Dies bestätigen die archäologischen Untersuchungen auf der Ketzelburg sehr deutlich. Die Burg war als repräsentative Anlage geplant. Enorme Arbeitsleistung ging in den Ausbau der, für die Größe der Burg, gewaltigen Wall und Grabenanlage sowie die Umgestaltung und Erweiterung der Felsenkuppe, auf der die Burg errichtet wurde. Man begann mit dem Bau eines eindrucksvollen Palas, der jedoch nie vollendet wurde. Trotz der nur kurzen Phase, in der die Burg genutzt wurde, ließ sich erkennen, dass man den Graben schon bald wieder verfüllte und wesentlich geringer dimensionierte, dass das Torhaus aufgegeben und auf die beeindruckende Kulisse für sich nähernde Besucher verzichtet wurde. Viele kleine Details, wie die Verplattung von angeschütteten Hangflächen in den Gräben zur Verhinderung von Erosion, ein Entwässerungsgräbchen am Palas oder die sorgfältig bearbeiteten Werkstücke für ausgewählte Partien zeigen das hohe technische Können der Erbauer der Burg. Die Verkleinerungen und Vereinfachungen des Bauplans bereits während des Baus bzw. in der kurzen Lebensspanne der Burg zeigen auch, dass der Anspruch des Bauherren seine Mittel überstieg und seine Erwartungen sich nicht erfüllten. Schließlich wurde die Burg systematisch abgebaut. Alles, was noch irgendwie verwertbar war, wurde entfernt und nur wenige Bruchstücke blieben zurück. Alles spricht für eine geordnete Aufgabe der Burg. Ob sie nun von einem Ministerialen bewohnt wurde, der nach Selbständigkeit strebte, oder von einem höherrangigen Adligen in Auftrag gegeben wurde, der seine Position im Mächtespiel verbessern wollte, die Burg hatte ihre Funktion überlebt. Die in sie gesetzten Erwartungen waren nicht in Erfüllung gegangen. Da sie an keiner bedeutenden, strategischen Stelle errichtet worden war, blieb das Areal in der Folge unbebaut.

Die Entwicklung von Burgen in Westfalen, wie sie von Hans-Werner Peine ausführliche beschrieben wurde7, kann auch als Spiegel für die Verhältnisse im Spessart dienen. Im Verhältnis von Adel zur Bevölkerung setzte der mittelalterliche Burgenbau auch im Spessart eine deutliche Zäsur. Sehr wahrscheinlich resultiert er aus einer stärkeren Distanzierung zwischen den beiden Gruppen, die bislang gemeinsam in Weilern oder Dörfern lebten. Teile des Adels zogen nun von ihren alten Höfen auf Anhöhen und erhoben sich so über die einfache Dorfbevölkerung. Die Adeligen nannten sich fortan auch nicht mehr nach ihren Dörfern, sondern nach ihren Burgen. Letztendlich entstanden aus deren Namen die Geschlechternamen der Familien. Die Burg war sicherer und repräsentativer Wohnsitz der adeligen Familie, sie musste also den Wohnbedürfnissen genügen, gleichzeitig stellte sie den Mittelpunkt der Grundherrschaft dar und war somit Wirtschafts- und Verwaltungszentrum sowie Gerichtssitz.

Die Umsiedelung der Niederadeligen in die angrenzenden Städte, wie hier in Regensburg trug dazu bei, dass einzelne Adelsfamilien ihren Status durch den Bau von burgähnlichen Wohntürmen untermauerten. Wahrscheinlich gab es solche Wohntürme auch im Altstadtkern von Aschaffenburg, auf dem Badberg. Der Bau wurde im Jahre 1783 abgerissen.Im Zuge des Aufstieges des Hochadels ging das Recht, Burgen zu errichten, vom König auf die geistlichen und weltlichen Fürsten über. Schließlich führte das Emporkommen des niederen Adels im Dienste des Königs, der Bischöfe und der großen Adelsgeschlechter dazu, dass seit dem späten 12. Jh. in bisher ungekanntem Ausmaß Burgen errichtet wurden, die den Mittelpunkt kleiner lokaler Ortsherrschaften bildeten. Die Burg, zum Symbol der Macht geworden, war somit auch Zeichen und Ausdruck eines stark verästelten Feudalsystems. Burgenbau wurde neben der Gründung von Städten wichtigstes Element von Herrschaftsbildung und -ausbau. Danach diente er der Sicherung und der Stabilisierung des Erreichten, wurde also zum konsolidierenden Element der Adelsherrschaft. Die Menschen suchten und fanden Schutz und Arbeit im Schatten der Burg: Landwirtschaft, Handel und Gewerbe siedelten sich auf den Burgen an. Aus einem anfangs mit viel Improvisationstalent und Verzicht entstandenen Gebilde entwickelte sich eine autarke, expansionsorientierte Wirtschaftseinheit, die bald schon in Konkurrenz mit ähnlichen Anlagen treten sollten, die direkt an das eigene Territorium angrenzten. Um bürgerkriegsähnliche Zustände zu verhindern, war in dieser Situation das Ein- greifen des obersten Landesherrn unumgänglich. Der Gordische Knoten einer Vielzahl expansionswilliger Niederadliger wurde zerschlagen, indem man eine grundlegende Neuordnung in die Wege leitete, bei denen die Niederadligen letztlich die Verlierer sein sollten. Ihr Rückzug aus dem Spessart, das Scheitern ihrer Träume vor so vielen Jahrhunderten ist ein Glück für die Archäologen und Heimatforscher heute, die beispielsweise in dem ungestörten Burgstall auf der Ketzelburg interessante Einblicke in eine faszinierende Epoche unserer Geschichte gewinnen können.

* Überarbeitete Fassung eines Artikels, veröffentlicht in Harald Rosmanitz, Die Ketzelburg in Haibach. Eine archäologisch-historische Spurensuche (Neustadt a. d. Aisch 2006), S. 45-53

  1. Markus Reisenleitner, Ritterbild und Mittelalterrezeption von der Aufklärung bis zur Gegenwart. In: Harald Prickler (Hg.), Die Ritter. Burgenländische Forschungen Sonderband VIII (Eisenstadt 1990), 164–174.
  2. Joachim Zeune, Die Burgen der Andechs-Meranier. In: Lothar Henning (Hg.), Die Andechs-Meranier in Franken. Europäisches Fürstentum im Hochmittelalter (Mainz 1998), 177.
  3. Andreas Schlunk u. Robert Giersch, Die Ritter. Geschichte – Kultur – Alltagsleben (Stuttgart 2003) , 88f.
  4. Roman Fischer, Aschaffenburg im Mittelalter. Studien zur Geschichte der Stadt von den Anfängen bis zum Beginn der Neuzeit. Veröffentlichungen des Geschichts- und Kunstvereins Aschaffenburg e.V., Band 32 (Aschaffenburg 1989) , 230–249.
  5. Gerhard Ermischer, Aschaffenburg und Mainz. In: Manuela Beer u. Gerhard Ermischer (Hg.), „den Bogen spannen“. Glanz der Romanik in Aschaffenburg (Aschaffenburg 2001), 16.
  6. Ermischer 2001, 16–19.
  7. Hans – Werner Peine, Dodiko, Rütger von der Horst und Simon zur Lippe: Adelige Herren des Mittelalters und der frühen Neuzeit auf Burg, Schloß und Festung. In: Hartmut Polenz (Hg.), Hinter Schloss und Riegel. Burgen und Befestigungen in Westfalen (Bönen 1997) , 160–165. Vgl. dazu für Niedersachsen: Hans-Wilhelm Heine, Burgen im Oldenburger Sachsenspiegel. Abbildung und Wirklichkeit – Burgenkundliche Bemerkungen. In: Mamoun Fansa (Hg.), Aus dem Leben gegriffen. Ein Rechtsbuch spiegelt seine Zeit (Odenburg 1995), 214–260; Hans-Wilhelm Heine, Die Motte – eine selten gewordene Art. Burgen vom Typ „Motte“ in Niedersachsen. Archäologie in Niedersachsen 1999 , 79–83.