Zwischen Fälschung und Corporate Identity –
Der Burgschlüssel*
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von Harald Rosmanitz
Berichten zufolge will im Jahre 1860 der Haibacher Konrad Roth auf der Ketzelburg einen hochmittelalterlichen Schlüssel gefunden haben1. Heute noch wird dieser Fund in der Gemeinde Haibach aufbewahrt.
Der Schlüssel hat eine Länge von 19,8 cm und inklusive Bart eine Höhe von 8,0 cm. Der vergleichsweise große, aus Eisenblech geschmiedete Drehschlüssel hat einen hohlen Schaft und einen zweifach eingekerbten Bart. Dieser Schlüsseltyp gehört zu einem Schubriegelschloss, das in Unterfranken vom 11. bis ins 14. Jahrhundert verwendet wurde2.
Schlüssel und Schlösser zur Sicherung des Eigentums gehörten im Mittelalter zum Allgemeingut. Schon während der römischen Zeit waren sie sehr geläufig. Dies belegen beispielsweise zahlreiche Schlüsselfunde auf der Saalburg. Bis in den Barock konnten die dazugehörigen Tür- und Truhenschlösser nur von einer Seite mit dem Schlüssel betätigt werden.
Der eiserne Schlüssel mit dem durchbrochenen Bart ist ein Drehschlüssel. Mittels des Schlüsselsbarts wird eine Sperrfeder zu Seite gedrückt, womit dann der Riegel in das Schloss vor- bzw. zurückgeschoben wird. Die Aussparung im Bart entspricht einer Führung im Schloss und dient als zusätzliche Sicherung gegen Missbrauch3. Der automatisch zuschnappende Riegel, auch unter dem Begriff des »deutschen Schlosses« bekannt, wird an Türen als Tagfalle bezeichnet.
Der Schlüssel von der Ketzelburg ist aus einem Stück gefertigt. Er besteht aus einer Reide, die als Griff dient. Als Halm bezeichnet man das Rohr, an dessen Spitze sich der Schlüsselbart befindet. Unter Schlüsselbart versteht man jenes Teil, das in der Kapelle des Schlosses in den Riegel eingreift und diesen bewegt4.
Mittelalterliche Schlüssel, die dem Haibacher Schlüssel ähneln, wurden aus einem Blech zusammengerollt, das der Abwicklung des Schlüssels entsprechend zugeschnitten war. Das überstehende Ende wurde zum Griff umgebogen und im Halm fixiert. Am anderen Ende schmiedete man einen einlagigen Bart aus.
So einfach das Funktionsprinzip auch ist, die praktische Ausführung verlangte eine sehr hohe Fertigkeit in der Schmiedekunst und ein enormes Einfühlungsvermögen in den Werkstoff Eisen. Zu sprödes oder zu weiches Rohmaterial hätte ein Zerbrechen oder eine Deformierung des Schlüssels während seiner Nutzung zur Folge gehabt. Bei der Schlüsselfertigung wurde eine relativ geringe Menge Metall benötigt, was darauf hinweist, dass der Marktwert des Metalls höher lag als in den nachfolgenden Jahrhunderten.
Größe und Form des Schlüssels von der Ketzelburg lassen sich mit hochmittelalterlichen Schlüsseln aus Unterfranken nur bedingt in Übereinstimmung bringen, ist doch das Haibacher Exemplar etwa doppelt so groß wie andere zeitgleiche Schlüssel. Zudem ist die Reide fast aller Eisenschlüssel aus der staufischen Epoche rautenförmig gearbeitet5. Eine Analyse des Schlüssels in den Restaurierungswerkstätten des Mainfränkischen Museums Würzburg förderte zahlreiche Details zu Tage, die den angeblichen Bodenfund eindeutig als Fälschung des 19. Jahrhunderts entlarvten.
Insbesondere fallen die viel zu ordentlich angelegten, gleichmäßigen Punzierungen auf, die alte Verrostungsspuren vortäuschen sollten. Tatsächliche Verrostungsspuren fehlen dagegen vollständig. Dem Fälscher ist dabei zugute zu halten, dass er sich bei seiner Neuschöpfung erstaunlich detailgetreu an Vorlagen aus der Zeit um 1200 orientierte. Dies war möglich, da man sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, angeregt durch die Vorlage der Funde von der Burg Tannenberg bei Seeheim-Jugenheim6, in zahlreichen, reich bebilderten Monographien und Aufsätzen der kunsthandwerklichen Erzeugnisse des deutschen Mittelalters kundig machen konnte. Solche Vorlagen erlaubten es den Handwerkern der Kunstgewerbebewegung am Ende des 19. Jahrhunderts, die bürgerlichen Wohnungen ganz im Stile des Mittelalters und der Renaissance zu gestalten7.
Man könnte die Fälschung von der Ketzelburg als amüsante Fußnote der Regionalgeschichte abtun8, wäre da nicht die offensichtliche Wertschätzung, die dieses Stück auch noch nach seiner „Enttarnung“ bei der Bevölkerung genießt. Dies führt uns vor Augen, wie eng die Menschen in Haibach mit ihrer Burg und damit auch mit ihrer Ortsgeschichte verbunden sind und wie sehr sie sich handfeste Beweise für die Existenz der mittelalterlichen Wehranlage wünschen.
Inzwischen rankt sich auch um den Schlüssel der Ketzelburg selbst eine Legende. Demnach soll ein Zugezogener – eben jener anfangs erwähnter Konrad Roth –, versucht haben, die Achtung der Einheimischen zu gewinnen. Als vorgeblicher Finder des verschollenen Schlüssels der Ketzelburg förderte er nach eigenem Bekunden ein reales Stück Burggeschichte zu Tage.
In seiner konkreten Bildhaftigkeit ist der Schlüssel ein mit allen Sinnen „begreifbares“ Zeugnis der mittelalterlichen Vergangenheit Haibachs, dem bis zum Beginn der archäologischen Untersuchungen keine weiteren Funde oder Befunde an die Seite gestellt werden konnten. Wobei man getrost voraus setzten kann, dass es in den vergangenen eineinhalb Jahrhunderten sicher nicht an Versuchen gemangelt hat, entsprechende Zeugnisse zu Tage zu fördern. Interessant ist der Zeitpunkt der angeblichen Entdeckung. Knapp zehn Jahre zuvor war die bereits erwähnte Abhandlung von Jakob Heinrich von Hefner und Johannes Wilhelm Wolf über ihre Ausgrabungen auf der Burg Tannenberg erschienen. Die Ausgrabungen gehören zu den Pioniertaten der Mittelalterarchäologie.
Das große Interesse an den Hinterlassenschaften des Hoch- und Spätmittelalters ist ein Ausdruck der Mittelalterbegeisterung im 19. Jahrhundert. Sie begann mit der im Jahre 1799 von dem Dichter Novalis verfassten programmatischen Schrift „Die Christenheit oder Europa“ und steht in engem Zusammenhang mit der aus England kommenden Burgenromantik, die in ganz Europa zu vollständigen Nachbauten oder zur Neuschöpfung großer Burgenanlagen geführt hat9. Nach der Wiedererrichtung des Schlosses Stolzenfels am Rhein in der Mitte des 19. Jahrhunderts schuf man in den folgenden fünfzig Jahren Anlagen wie den Neubau des Schlosses Neuschwanstein und den Wiederaufbau der Wartburg und der Hohkönigsburg.
Das Mittelalter wieder aufleben zu lassen, bedeutete nur vordergründig eine Realitätsflucht in die „gute alte Zeit“. Im Schatten des Hambacher Festes sah man in der Rückwendung ins Mittelalter auch den Schritt zu einem geeinten Deutschland. Vor diesem Hintergrund wird verständlich, warum man der „Entdeckung“ des Schlüssels von der Ketzelburg einen sehr hohen Wirkungsgrad einräumen muss. Es geht eben nicht nur darum, dass ein Heimatbegeisterter „aus Mangel an Beweisen“ einen Burgschlüssel aus dem Hut zauberte. Konrad Roth hat vielmehr mit Vorsatz und Bedacht gehandelt und zum idealen Zeitpunkt – zumindest aus seiner Sicht – genau das richtige getan.
Der „echte“ Schlüssel zur Burg wurde übrigens auch bei den Ausgrabungen in den Jahren 2004/2005 nicht gefunden. Umso überraschender war der Fund eines Schlüsselfragments vom Gräfenberg bei Hösbach-Rottenberg10. Bei dem noch 5,1 cm langen und 7,5 cm hohen Fragment vom Gräfenberg hat sich noch der Halm eines ursprünglich hohl gearbeiteten Schlüssels mit Schlüsselbart erhalten. Übereinstimmende, weiß brennende Keramik vom benachbarten Klosterberg belegt, dass letzter Burgstelle etwa zeitgleich mit der Ketzelburg besiedelt war. Funde aus der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts sprechen für eine weit längere Besiedelung der Anlage als in Haibach. Die Burg auf dem Gräfenberg wurde, wie die Grabung im Jahre 2007 nachweisen konnten, erst in der Mitte des 13. Jahrhunderts errichtet und bald darauf zerstört. Auch wenn das Schlüsselfragment nicht einem bestimmten Befund zugeordnet werden kann, gibt es uns doch einen Hinweis darauf, dass ähnliche Schlüssel tatsächlich auf vergleichbaren Burganlagen in Gebrauch waren – und das auch noch mehr als fünfzig Jahre nach Aufgabe der Ketzelburg.
* Überarbeitete Fassung eines Artikels, veröffentlicht in Harald Rosmanitz, Die Ketzelburg in Haibach. Eine archäologisch-historische Spurensuche (Neustadt a. d. Aisch 2006), S. 11-14
- Josef Roth, Haibachs Wachsen und Werden. Spessart. Monatsschrift des Spessartbundes. Zeitschrift für Wandern, Heimatgeschichte und Naturwissen, Heft 6, 1960, 4; Oliver Walter Schreiber, Ringwall – Burgstall – Motte. Die Erforschung der Ketzelburg bei Haibach durch das Archäologische Spessartprojekt als Beispiel für die kulturhistorische Erschließung des Spessarts. Masch. Hausarbeit (Aschaffenburg 2001), 8 u. 23; Renate Welsch, Haibach im Wandel der Zeit – Ortsbild und örtliches Leben (Haibach 1987), 226 f. Schreiber erwähnt die Auffindung des Schlüssels an einer Stelle irrtümlicherweise für das Jahr 1840 (Schreiber 2001, 23).
- Birgit Münz, Die Niederungsburg Tüschnitz im Landkreis Kronach. Die archäologische Erforschung eines Kleinadelssitzes aus dem Spätmittelalter. Materialhefte zur Archäologie des Mittelalters und der Neuzeit Bd. 3 (Rahden/Westfalen 1997), 102.
- Christoph Grünewald, Mittelalterliche Kleinfunde aus den Mindener Grabungen. In: Hartmut u. Helga Polenz u. Elke Waterstradt (Hg.), Ausgrabungen in Minden. Bürgerliche Sachkultur des Mittelalters und der Neuzeit (Münster 1987), 165f.
- Andreas Weißgerber, Schloss und Schlüssel. In: Bendix Trier (Hg.), Ausgrabungen in der Abtei Liesborn (Münster 1993), 202–205.
- Christof Krauskopf, …davon nur noch wenige rutera zu sehen seyn sollen … Archäologische Ausgrabungen in der Burgruine Schnellerts. Kultur und Lebensformen in Mittelalter und Neuzeit 1 (Bamberg 1995), 67f, Taf. 31.3–5; Schreiber 2001, 24f.
- Jakob Heinrich von Hefner u. Johannes Wilhelm Wolf, Die Burg Tannenberg und ihre Ausgrabungen (Frankfurt a. Main 1850).
- Hufschmidt 1992, 95–100.
- Damit wäre der Schlüssel mit jenem Kuckucksei in Form einer Versteinerung gleichzusetzen, die dem Fundmaterial im Sommer 2005 untergemischt wurde.
- Markus Reisenleitner, Ritterbild und Mittelalterrezeption von der Aufklärung bis zur Gegenwart. In: Harald Prickler (Hg.), Die Ritter. Burgenländische Forschungen .Sonderband VIII (Eisenstadt 1990), 164–174.
- Länge n. 5,1 cm, Höhe 7,5 cm. Die Funde vom Gräfenberg wurden dem Autor dankenswerterweise von Herrn Roland Steigerwald vom Heimatmuseum in Rottenberg zur Begutachtung vorgelegt.