Zum Geleit*
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von Gerhard Ermischer
Der Spessart ist reich an Bäumen und Räubern – so das gängige Klischee. Nur wenige Menschen wagten sich über die Jahrhunderte in den dichten Wald, vor allem Glasmacher, Köhler und natürlich Jäger. Die durch das Archäologische Spessartprojekt angestoßene intensive Forschungsarbeit der vergangenen zehn Jahre hat allerdings ein ganz anderes Bild entstehen lassen: der Spessart als eine dynamische Kulturlandschaft. Dabei hat sich der Blick in den letzten Jahren verstärkt auf die Burgen im Spessart gerichtet. Neben den bekannten großen Burgen des Spätmittelalters, die sich vor allem entlang des Mains aufreihen, erregten dabei die kleinen Burganlagen aus dem Hochmittelalter unser Interesse. Es zeigte sich, dass der Spessart einst von einem außergewöhnlich dichten Netz solcher kleiner Niederadelsburgen erschlossen war. Allerdings sind fast alle dieser Burgen am Ende des Hochmittelalters wieder verschwunden. Sie waren meist aus Holz gebaut und entsprachen in ihren Abmessungen und ihrer Funktionsweise eher befestigten Bauernhöfen – und damit so ganz und gar nicht unserem romantischen Burgenideal. Solche Anlagen haben nur wenig Spuren in der Landschaft hinterlassen. Ihre hohe Dichte wie ihr Verschwinden wirft aber spannende Fragen auf. Vor allem beweisen die Burgstellen, dass der Spessart bereits im 12. Jahrhundert eine weitgehend erschlossene Landschaft war, die durchaus in der Lage war eine große Zahl solcher Niederadelssitze wirtschaftlich zu tragen.
Die Ketzelburg in Haibach stellte in dieser Hinsicht ein geradezu ideales Forschungsobjekt dar. Nahe bei Aschaffenburg gelegen haben sich von ihr außergewöhnlich eindrucksvolle Spuren erhalten, die in der Forschung zwar seit mehreren Jahrzehnten als hochmittelalterlich erkannt wurden, in der lokalen Tradition aber gerne als keltisch oder germanisch angesehen wurden. Zugleich ranken sich um die Ketzelburg verschiedene Legenden, die sie mit historischen Ereignissen im Erzstift Mainz in Verbindung bringen. Auch war der junge und überaus rege Heimat- und Geschichtsverein Haibach – Grünmorsbach – Dörrmorsbach ein idealer Ansprechpartner für die Wissenschaftler. Er hat die Arbeiten an der Ketzelburg nicht nur unterstützt sondern überhaupt erst ermöglicht. Das vorliegende Buch ist die Frucht dieser Partnerschaft von Geschichtsverein, dem Archäologischen Spessartprojekt und der Universität Würzburg. Die organisations- und fächerübergreifende Partnerschaft ermöglichte es uns, durch Ausgrabungen und begleitende Forschungsarbeiten einen einzigartigen Eindruck von der Entstehung und den Lebensumständen einer hochmittelalterlichen Niederadelsburg zu gewinnen.
Das Buch soll den Leser mitnehmen auf eine Zeitreise, ihn mit den Ausgrabungen auf der Ketzelburg ebenso vertraut machen, wie mit den Legenden um die Burg und mit ihrer Bedeutung für Haibach und seine Bürger bis zum heutigen Tag. Die Befunde und Funde von der Ketzelburg werden vorgestellt und in ihren historischen Kontext gesetzt. Die faszinierenden Rekonstruktionszeichnungen, die in enger Zusammenarbeit zwischen Forschern und Zeichner entstanden sind, lassen die Ketzelburg vor unseren Augen wieder entstehen. Zusammen mit den Sicherungsarbeiten an der ausgegrabenen Torwange des einstigen Burgtores und der Rekonstruktion des Turmfundaments lassen sie die Ketzelburg wieder lebendig werden.
Da die Ketzelburg nur sehr kurze Zeit bestand, bietet sie den Archäologen eine seltene Chance: Einblicke in die Gründungsphase einer kleinen Burganlage zu gewinnen. Das Bodendenkmal hat sich diesbezüglich als wahre Fundgrube erwiesen. Wie in einer Reihe von Momentaufnahmen ließen sich die Anlage der Burg, der Bau des ersten Wohnturms, einer repräsentativen Toranlage und sogar Umplanungen und Rückbauten erkennen. Obwohl die Burg systematisch abgebaut wurde und daher keine fundreiche Zerstörungsschicht zurück blieb, lassen die einzelnen Fundstücke, wie Kacheln, Geschirr, ein Webgewicht oder eine Bodenfliese Rückschlüsse auf die Ausstattung, die Lebensbedingungen und den Alltag auf der Burg zu.
Die Ketzelburg ist aber nicht nur ein historisches Forschungsobjekt, sondern auch ein Stück Identität für die Menschen von heute. Deshalb beleuchtet dieses Buch nicht nur aus archäologischer, historischer und naturwissenschaftlicher Sicht die Überreste der hochmittelalterlichen Burganlage, sondern geht auch auf die Bedeutung der Ketzelburg für Haibach hier und jetzt ein. Das enorme Engagement zahlreicher freiwilliger Helfer bei den Grabungen und der Rekonstruktion einzelner Elemente der Ketzelburg hat die enge Verbundenheit der Haibacher mit ihrer Geschichte und ihrem Ort eindrucksvoll gezeigt. Der Wunsch nach einer regionalen Identität, der „eigenen“ Geschichte wird gerade in Zeiten der Globalisierung immer stärker spürbar. Hierin liegt auch eine Chance für die Denkmalpflege und für den nachhaltigen Erhalt und die Pflege unseres kulturellen Erbes.
Die Ketzelburg kann auch in dieser Hinsicht als ein gelungenes Pilotprojekt angesehen werden. Die Verbindung von wissenschaftlicher Forschung, heimatkundlichem Interesse und identitätsbildenden Aktionen spiegelt sich in diesem Buch wieder. Geschichtsforschung sollte schließlich nicht verstaubt und weltfremd sein, sondern mitten im Leben stehen – sich mit dem Leben der Menschen längst vergangener Zeiten beschäftigen, und dabei zugleich Antworten auf Fragen der Gegenwart geben. Dies ist an der Ketzelburg in eindrucksvoller Weise gelungen. Aus einem wenig beachteten Erdwall ist eine sichtbare und mit allen Sinnen begreifbare Gründungsurkunde Haibachs geworden, ein Brennpunkt des Interesses und ein gemeinsames Projekt für alle – Gemeinde im besten Sinne.
* Überarbeitete Fassung eines Artikels, veröffentlicht in Harald Rosmanitz, Die Ketzelburg in Haibach. Eine archäologisch-historische Spurensuche (Neustadt a. d. Aisch 2006), S. 3-4