Eine Gründungsurkunde aus Stein?

Fragment einer in Stein gehauenen Figur von der Burg Wildenstein, um 1220, H. 13,0 cm Br. 12,0 cmAus den Versturzschichten über dem Erdgeschoss des Palas, welche sich dem 18. Jahrhundert zuweisen lassen, stammen zahlreiche behauene Sandsteine. Neben Architekturelementen wie Fenster- und Türgesimsen oder Teilen der Einfassung zweier offener Kamine sind hier insbesondere Fragmente von Blidenkugeln zu benennen. Die grob aus dem anstehenden Buntsandstein kugelig zugerichteten Wurfgeschosse mit circa 30cm Durchmesser dürften in den im Spätmittelalter aufgestockten Palas als Dekorelemente eingebaut worden sein. Nur so lässt sich ihre Präsenz in den Versturzschichten der um 1700 kollabierten Bebauung erklären.

Als besonderes Stück kann das Fragment einer in Stein gehauenen Figur angesprochen werden. Das 12,5cm hohe und 13,2cm breite Fundstück weist noch eine Tiefe von 7,5cm auf.1 Im Gegensatz zu sämtlichen anderen behauenen Sandsteinen wurde die Skulptur aus weißem Sandstein gefertigt, der sich besonders für filigrane Steinmetzarbeiten eignet. Auf dem Stück erkennt man einen stark stilisierten Kopf. Die mandelförmigen, ursprünglich hervorquellenden Augen und die überproportionierte, sich kegelförmig nach unten erweiternde Nase erlauben keine individuelle Ansprache des Dargestellten. Die Nase wurde nachträglich mit einem spitzen Gegenstand abgearbeitet. Mit demselben Werkzeug zerstörte man auch Teile der Augen. Das restliche Gesicht weist keine Spuren nachträglicher Beschädigungen auf. Das Gesicht ist in verschiedene Kompartimente aufgeteilt.

Proportionierung und Anordnung von Stirn, Augen, Nase sowie der nur noch in Spuren vorhandenen Mund-Kinn-Region sind kennzeichnend für die spätromanische Kunst in Süddeutschland. Die haubenförmige Frisur beziehungsweise Kopfbedeckung entzieht sich aufgrund des fragmentarischen Zustands einer genauen Ansprache. Möglicherweise handelt es sich um eine Bundhaube, auch Coiffe oder Hersenier genannt, oder eine gewellte Langhaarfrisur, die andernorts in eben dieser Manier dargestellt wurde. In Darstellungen aus dem um 1230 entstandenen Skizzenbuch des Villard de Honnecourt wird die mittelalterliche Kopfbedeckung mit einer daraus hervorquellenden Frisur kombiniert. Eine Ansprache als Hirn- oder Beckenhaube scheint weniger wahrscheinlich zu sein. Der archaische Charakter der Skulptur wird dadurch verstärkt, dass sämtliche Partien nach dem Behauen sorgfältig glattgeschliffen wurden. Für eine farbige Fassung des Fragments fanden sich keine Indizien.2 Stilistisch lässt sich das Stück mit Hilfe von romanischer Bauskulptur dem zweiten Drittel des 13. Jahrhunderts zuweisen.

Formal könnte das Fragment als konsolenartiger „Neidkopf“ ausgebildet gewesen sein. Ein solcher findet sich beispielsweise am Auflager des Kirchturmdaches von St. Vitus in Sailauf. Gegen eine solche Deutung sprechen allerdings die kleinen Dimensionen des Stückes. Einen Hinweis auf eine andersartige Nutzung erschließt sich auf der Burg Rieneck. In der im 12. Jahrhundert oberhalb der heutigen Stadt Rieneck errichteten Anlage sind in die Giebelwand der ins 13. Jahrhundert datierten Hofkapelle zwei figural verzierte Platten eingelassen. Trotz ihres singulären Charakters im Spessart haben sie noch keine genauere bau- und kunsthistorische Bearbeitung erfahren. Sie werden gerne auch als spätere Zutat im Zuge des Burgumbaus im 19. Jahrhundert interpretiert. Dafür spricht auch der an der Verwendung kleinformatiger Steine erkennbare Umbau der heute mit einem Treppengiebel ausgestatteten Fassade. Die beiden unabhängig voneinander gearbeiteten Platten über dem zentralen Portal sind mit den als unterlebensgroße Halbreliefs ausgeführten, stehenden Ganzfiguren zweier Männer, eines Laien und eines Geistlichen, besetzt. Nur am rechten Relief mit dem Gerüsteten hat sich das Gesicht des Dargestellten erhalten. Es kann in seiner Ausführung mit deutlichen Parallelen zu dem Wildensteiner Fragment aufwarten. Die beiden heute nebeneinander angeordneten Reliefs waren an dieser Stelle sicher nicht von vornherein als zusammengehörige Gruppe konzipiert. Kleider- und Bearbeitungsdetails weisen sie als lokale Produktion aus. Details in der Kleidung des rechten Reliefs wie das unterhalb der Hände und oberhalb der Schuhe sichtbare Kettenhemd oder der dünne, nur aufgelegte Leibgurt mit seiner langen Riemenzunge geben Anhaltspunkte für eine hochmittelalterliche Zeitstellung. Dies bestätigt sich in der Form des Würfelkapitells, welches eine die Figur zu ihrer Rechten flankierende Säule trägt.

Die Reliefs von der Burg Rieneck bestätigen das Vorhandensein vergleichbarer Skulptur auf der Stammburg jenes Grafengeschlechts, welches maßgeblich für den Ausbau der Burg Wildenstein verantwortlich war. Der ursprüngliche Funktionskontext lässt sich möglicherweise über salier- und stauferzeitliche Bauinschriften herstellen.3 Mit aller Vorsicht können die nach 1493 gefertigten, lebensgroßen Reliefs der Erbauer der Burg Boxberg im Main-Tauber-Kreis4 als Hinweis dafür dienen, dass ein Relief in der Art der Hofkapelle der Burg Rieneck als Selbstdarstellung des Erbauers oder Renovators der Burg Wildenstein dort an hervorragender Stelle im Palas angebracht war.


Weiterführende Literatur:

David Enders, Harald Rosmanitz, Tatort Burg. Die Ausgrabungen auf der Burg Wildenstein, in: Beiträge zur Archäologie in Ober- und Unterfranken 9 (2015), S. 317–352.

Harald Rosmanitz, Die Nachgeburtstöpfe auf der Burg Wildenstein. Ein kurioser archäologischer Fund im Palaskeller, in: Spessart 106 (2012), S. 10–13.

Sebastian Scholz, Die Urkundeninschriften in Speyer (1111), Mainz (1135) und Worms (1184). Funktion und Bedeutung, in: Laura Heeg (Hg.), Die Salier. Macht im Wandel, München 2011, S. 162–165.

Alfons Zettler, Baunachricht oder Herrschaftszeichen? Über einige profane „Bauinschriften“ aus staufischer Zeit, in: Olaf Wagener (Hg.), Symbole der Macht? Aspekte mittelalterlicher und frühneuzeitlicher Architektur (Beihefte zur Mediaevistik Bd. 17), Frankfurt a. M./Berlin/Bern/Bruxellews/New York/Oxford/Wien 2012, S. 53–70.

Eva Zimmermann, Die mittelalterlichen Bildwerke. In Holz Stein Ton und Bronze; mit ausgewählten Beispielen der Bauskulptur, Karlsruhe 1985.

 

  1. Eschau, Burg Wildenstein, Fundnummer 195.
  2. Möglicherweise ging die Farbfassung durch Witterungseinflüsse noch vor Zerstörung der Skulptur verloren.
  3. S. Scholz, Die Urkundeninschriften in Speyer (1111), Mainz (1135) und Worms (1184). Funktion und Bedeutung. In: L. Heeg (Hrsg.), Die Salier. Macht im Wandel (München 2011); A. Zettler, Baunachricht oder Herrschaftszeichen? Über einige profane „Bauinschriften“ aus staufischer Zeit. In: O. Wagener (Hrsg.), Symbole der Macht? Aspekte mittelalterlicher und frühneuzeitlicher Architektur. Beihefte zur Mediaevistik 17 (Frankfurt a. M./Berlin/Bern/Bruxellews/New York/Oxford/Wien 2012).
  4. E. Zimmermann, Die mittelalterlichen Bildwerke. In Holz Stein Ton und Bronze; mit ausgewählten Beispielen der Bauskulptur (Karlsruhe 1985), S. 110-113.