In den letzten 20 Jahren wurde Landschaft, oft mit den Zusätzen “Kultur” oder “Natur” zu einem äußerst populären Schlagwort. Wenn man im Internet nach „Kulturlandschaft“ oder „Naturlandschaft“ sucht, so wird man mit Tausenden von Treffermeldungen überschüttet. Viele dieser Webseiten sind touristisch und nutzen diese Begriffe als Markenzeichen ihrer Region um deren herausragende Qualität zu dokumentieren. Aber was ist eigentlich Landschaft, wie wird Landschaft definiert? Selbst dieses einfache Wort wird auf unterschiedlichste Weise gebraucht und man hat sich auch gar keine Gedanken über seine Bedeutung gemacht.

Vor zwei Jahrhunderten definierte Alexander von Humboldt (1769-1859) , der große Entdecker, Forscher und Diplomat, die Landschaft als „Totalität aller Aspekte einer Region“ und betonte die Bedeutung der menschlichen Wahrnehmung für die Landschaft. Diese verkürzte Definition ist nach wie vor die beste und eingängigste, die man finden kann. Sie beschreibt die Landschaft als Summe aller Aspekte – natürlicher, kultureller, geographischer, geologischer, biologischer ebenso wie künstlerischer Bedingungen – und sie betont die menschliche Wahrnehmung als ein wesentliches Element der Landschaft. Wenn man Kulturlandschaft als eine Landschaft definiert, die vom Menschen geprägt oder verändert wurde, gleich ob willentlich oder unbeabsichtigt, so treibt Humboldts Definition diesen Gedanken auf die Spitze: allein der Umstand, dass ein Mensch seine Umgebung wahrnimmt und sie interpretiert, macht aus seiner Umwelt eine Landschaft. Daher muss jede Landschaftsforschung und damit folglich auch jede Landschaftsplanung, vom Menschen, seinen Ideen und Konzepten einer Landschaft ausgehen. Andernfalls sollte man von Umwelt sprechen oder andere Begriffen benutzen, aber: Landschaft bedingt den Menschen als entscheidenden Faktor.

Eine solche Definition ist nicht nur holistisch. Sie verdeutlicht auch, wie wichtig es ist, die menschliche Wahrnehmung der Landschaft zu verstehen, um die Landschaft selbst zu begreifen. Das Denken des Menschen beeinflusst wesentlich die Gestaltung der Landschaft, den Umgang mit der Landschaft und die Reaktionen auf die Landschaft. Dies soll an einigen Beispielen verdeutlicht werden:

In Südwestengland werden die Dörfer und die sie umgebende Landschaft von mächtigen Kirchen dominiert. Nicht weit entfernt in Nordwales finden sich in den Dörfern die scheunenartigen Kapellen der Methodisten, die hier im 19. Jahrhundert die bestimmende Kraft wurden. Dies war die große Zeit des Schieferbergbaus und Schiefer ist auch das wichtigste Baumaterial. Die graue Farbe des Schiefers verstärkt den strengen Eindruck der Gebäude, die dank der asketischen Grundeinstellung der methodistischen Kirchen, dort wo sie verputzt werden, oft auch noch grau gestrichen sind. Jenseits der Grenze zu England dagegen sind die Häuser weiß verputzt, die Tore und Fensterrahmen in grellem Rot, Blau oder Grün gestrichen. Eine an sich recht ähnliche Landschaft wirkt plötzlich ganz anders auf den Betrachter.

Die soziale und ökonomische Situation der walisischen Schieferarbeiter löste auch die “Sqatter”-Bewegung aus, in der die Schieferarbeiter bis dahin noch brachliegendes Heide- und Marschland besiedelten und dort ihre kleinen Häuser und unzähligen Feldmauern aus Schieferbruch errichteten, um das Land zu erschließen. Die so geschaffenen Felder erlaubten ihnen gerade eine Kuh oder einige Ziegen zu halten. Heute sind die meisten dieser Häuser verlassen oder werden von englischen Touristen aufgekauft, die sie in Ferienhäuser verwandeln – wobei sie diese trotz hoher Auflagen der örtlichen Denkmalpflege weiß verputzen und ihre geliebten Farben für Tore und Fensterrahmen in die walisische Landschaft tragen.

Geht man etwas weiter in die Geschichte zurück, so findet man in Nordwales eine andere Bewegung zur Veränderung der Landschaft: Die herrschenden Familien bauten ihre Herrenhäuser in die fruchtbaren Täler, die sie dabei ganz nach ihren eigenen Wünschen umgestalteten. So erbaute die Oakeley-Familie ihr Herrenhaus Plas Tan y Bwlch an den Hängen zum Fluss Dwyryd hin, verwandelte einen ganzen Berghang in einen Landschaftsgarten, in dem exotische Sträucher und Bäume den Ton angeben. Den gegenüberliegenden Hang bepflanzten sie mit Bäumen. Der Fluss, der annähernd gerade durch das Tal floss und ein wichtiger Verkehrsweg zum Flößen von Holz war, ließen sie in künstliche, pittoreske Meander legen. Ein faszinierendes Beispiel einer Kanalisierung mit der man genau den gegenteiligen Weg einschlug, der später bei der Begradigung von Flüssen und Bächen üblich wurde. Am Talende wurde ein Dorf für die Bediensteten erbaut, aus denselben Materialien und im gleichen Stil wie das Herrenhaus, jedoch so gelegen, dass man es vom Herrenhaus nur von bestimmten Punkten aus sehen konnte, so dass es den Ausblick nicht störte. So wurde ein ganzes Tal nach den Bedürfnissen und Wünschen einer Familie geformt.

Ein weiteres Beispiel einer sozial und ökonomisch geprägten Landschaft findet sich in Südböhmen. Dieses Gebiet wurde im Mittelalter von adeligen Familien beherrscht, die aus strategischen Gründen zahlreiche Klöster gründeten. Die Mönche und Nonnen unterlagen strikten Speisegeboten. Zahlreiche Fastenzeiten, in denen der Genuss von Fleisch verboten war, führten zu einem großen Bedarf an frischem Fisch. So wurden, begünstigt von dem dichten Gewässernetz, viele Fischteiche angelegt. Wichtigster Speisefisch war der Karpfen, doch wurden hier auch die ersten Frischwasserteiche errichtet, in denen Forellen und andere Frischwasserfische gezüchtet werden konnten. Noch heute verleihen die Fischteiche der Landschaft einen unverwechselbaren Charakter. Die idyllische Wasserlandschaft wurde durch die Flut im Herbst 2002 verwüstet, als sich die friedlichen Teiche und Bäche in eine riesige Seenplatte verwandelten und das Land überschwemmte. Für die Bewohner war dies ein großer Schock. Erst jetzt wurde man sich in vollem Umfang seines Lebensumfeldes bewusst und machte sich Gedanken über den Umgang mit der Landschaft.

Es sind die außergewöhnlichen Ereignisse, die “Jahrhundert-“ oder gar “Jahrtausendfluten” 2002, oder die überraschende Hitzewelle des Jahres 2003, die den großen Begriffen „Klimawechsel“ oder „globale Erwärmung“ für den durchschnittlichen Nachrichtenkonsumenten Bedeutung verleihen, da sie diese Schlagworte plötzlich erlebbar und nachvollziehbar machen. Als Reaktion werden einfache Wahrheiten als bahnbrechende neue Einsichten präsentiert, etwa den Einfluss, den die Kanalisation von Bächen und Flüssen, die Entwaldung von Berghängen oder die Versiegelung großer Flächen auf solche Ereignisse haben. Wir sind zu Recht stolz auf den Wissenszuwachs der letzten zwei Jahrhunderte. Manchmal muss man sich jedoch noch mehr darüber wundern, wie viel wir so leichtfertig wieder vergessen haben. Schon im 8. Jahrhundert erließ Karl der Große Edikte zum Schutz der Bannwälder in den Gebirgen, drohte mit schweren Strafen für deren Abholzung. Als Erklärung für diese schweren Strafen führte er an, dass die Bergwälder Lawinen vermeiden helfen und die tiefer gelegenen Siedlungen schützen. Im Jahre 1300 schrieb ein Dominikaner im elsässischen Colmar, wie sehr sich die Menschen über die Zunahme der Überflutungen und deren schreckliche Folgen wunderten. Wenn er um sich blicke, fuhr er fort, sehe er die Hügel entwaldet, die noch vor einem Jahrhundert mit dichten Wald bestanden waren und so werde das Wasser nicht länger in den Hügeln gebunden, sondern fließe direkt in die Flüsse, wodurch die Überschwemmungen so viel verheerender würden.

Wir können nachvollziehen, wie menschliche Ideen die Landschaft beeinflussen und formen. Glaubensvorstellungen, wirtschaftlicher Reichtum, soziale Strukturen spiegeln sich in Bauwerken ebenso wie in der Gestaltung der Landschaft. Technologie übt einen großen Einfluss auf unseren Umgang mit der Landschaft aus. Sie bestimmt nicht nur über unsere Fähigkeiten die Landschaft zu verändern, sondern sie beeinflusst auch die Art, in der wir denken und handeln. Schauen wir uns die Bilder der niederländischen Maler des 16. und 17. Jahrhunderts an, so können wir in den wunderbaren Landschafts- und Genrebildern etwa die Bauern beobachten, die den Weizen mit ihren Sicheln schneiden. Das Korn steht mannshoch. Es wurde so gezüchtet, weil Stroh ein wertvoller Rohstoff war, mit dem etwa der Boden der Ställe gestreut wurde. Mit Mist vermengt wurde es dann auf den Feldern ausgebracht. Weitgehend ertraglose Sandböden konnten so über Jahrzehnte in fruchtbares Ackerland verwandelt werden. Ein Mensch der diese hochragenden Halme mit seiner Sichel von Hand schneidet hat in jeder Hinsicht eine ganz andere Perspektive als ein Bauer, der hoch auf seinem vollklimatisierten Mähdrescher mit eingebautem Navigationssystem sitzt und automatisch seinen kurzstieligen Hochleistungsweizen erntet, drischt und verpackt. Der Einfluss den unsere Ideen und Vorstellungen auf die Landschaft haben, wurde bereits in der Vergangenheit erkannt. So beauftragten die Senatoren von Siena den Künstler Ambrogio Lorenzetti (um 1290 – 1348) im Jahre 1338 mit der Ausmalung ihres Versammlungsraumes. Als Thema wählten sie die Auswirkungen der guten und der schlechten Regierung auf die Stadt und das umgebende Land. Die gewaltigen Löcher in der Landschaft durch den Braunkohle-Tagebau sind ein Symbol für die zerstörerische Wirkung einer rein gewinnorientierten Ausbeutung der Landschaft.

Der Wandel der Landschaft hat sich seit der Industrialisierung ständig beschleunigt. Was vor hundert Jahren eine Industrielandschaft war, kann heute ein Naturschutzgebiet sein. Die Schieferbergbaugebiete in Nordwales waren ein Ort knochenharter und gefährlicher Arbeit, wo Menschen zwölf Stunden am Tag in den Minen schufteten. Der Turnus wurde lediglich durch die sonntägliche Andacht unterbrochen. Heute sind die riesigen Abraumhalden, gefluteten Gruben und aufgelassenen Stollen eine Touristenattraktion und sogar UNESCO-Weltkulturerbe. Der Blick auf die Landschaft ändert sich mit der Entwicklung neuer Technologien und dem Lauf der Geschichte.

Gegenwärtig zählen die Windparks zu den am kontroversesten diskutierten Neuerungen in unserer Landschaft. Für einige sind sie ein gutes Geschäft, nicht zuletzt wegen politisch motivierter Subventionen, für andere sind sie eine ökologische Revolution, ein leuchtendes Beispiel für nachhaltige Energiegewinnung in Zeiten globaler Erwärmung und der Diskussion über die durch Kohle-, Öl- und Gaskraftwerke verursachten Treibhausgase. Sie sind aber auch ein wichtiger Faktor bei der Veränderung der Landschaft. Die immer höheren Türme und Rotoren der Windräder, die sich zu riesigen Windparks in den flachen Küstenregionen und mehr und mehr auch in den Gewässern vor der Küste vereinigen, verändern den Charakter der Landschaft. Wo etwa in den Ebenen Norddeutschlands bis vor kurzem noch die Türme der Dorfkirchen die einzigen weithin sichtbaren Landmarken darstellten, werden sie heute von den großen Windrädern im wahrsten Sinne des Wortes in den Schatten gestellt. Für viele Bewohner wurde dadurch ihr Bild der eigenen Landschaft zerstört. Mit der Entwicklung neuer Typen von windgetriebenen Generatoren, die das Vordringen der Windparks auch in die höher gelegenen Regionen, ja sogar alpine Lagen ermöglichen, verschärft sich die Diskussion um Sinn und Unsinn der Nutzung von Windenergie.

Zumindest waren Windmühlen in vielen Regionen Europas seit dem Mittelalter ein gewohnter Anblick. Als holländische Ingenieure im 16. Jahrhundert hoch effiziente Typen entwickelten, um die Marschlande zu entwässern und neues Weide- und Ackerland zu gewinnen und gleichzeitig die immensen Gewinne aus dem Überseehandel die dafür benötigten finanziellen Rücklagen schufen, verbreiteten sie sich rasch in Nordeuropa. Sie bewegten Wasser, mahlten Korn oder betrieben Säge- und Hammerwerke. Die Menschen waren auf die neue Technologie stolz, die es erlaubte den Wind, jene unberechenbare Naturgewalt, einzufangen und zum eigenen Vorteil zu nutzen. Windmühlen auf niederländischen Landschaftsbildern sind nicht nur Metaphern und Symbole. Sie stellen einen wichtigen und geschätzten Bestandteil der Landschaft dar, zeugen vom Wohlstand der Region. Auch damals standen Windmühlen nicht immer allein, sondern konnten zu großen Windparks vereint werden. Auf der Insel Saaremaa in Estland etwa hatten viele Bauernhäuser im 19. Jahrhundert ihre eigene Windmühle. In einem einzigen Dorf betrieb man gleichzeitig bis zu 24 Windmühlen. Nur eine einzige dieser Ansammlungen existiert, zumindest teilweise, noch heute. Die Überreste zahlreicher Windmühlen finden sich verstreut über die Landschaft. Einzelne Windmühlen waren aus Stein gebaut: mächtige Türme, deren Stümpfe mehr an die Ruinen von Festungen erinnern als an Wirtschaftsgebäude. Restauriert sind manche heute zu Touristenattraktionen geworden. Sie beherbergen Ferienwohnungen, Bars und Restaurants.

Vor allem die Neuerungen auf den Verkehrswegen im Industriezeitalter trugen wesentlich zum Landschaftswandel bei. Die Kanalisation der Flüsse, Eisenbahnen und neue Straßentypen durchschnitten die Landschaft und schufen neue Infrastrukturen, ermöglichten die wirtschaftliche Nutzung der Landschaft. Entlang der Lebensadern der Industriegesellschaft siedelten sich neue Industriezweige an, entstanden Metropolen. Die schnelle Erreichbarkeit des Arbeitsplatzes führte zu einer räumlichen Trennung von Arbeitsplatz und Wohnstätte. Dadurch wurde die Landschaft zersiedelt. Anfangs war man sehr stolz auf die neuen Technologien. Selbst in den stimmungsvollen Gemälden der englischen und französischen Impressionisten kann man Eisenbahnbrücken und dampfende Lokomotiven erkennen. Andere malten Fabriken wie Kathedralen. Aus den Schloten und Kaminen von Produktionsstätten und Häuserzeilen quillt der Rauch als Symbol für wachsenden Wohlstand und Fortschritt. Heute wird ein solcher Fortschritt mit mehr Skepsis betrachtet, da die Geschwindigkeit des Wandels für viele Menschen eher beängstigend geworden ist.

So wie wir eine Veränderung der Wahrnehmung des Wandels und Fortschritts beobachten können, können wir auch feststellen, dass die Wahrnehmung selbst, das Image einer Sache, zu den Faktoren mit einer durchschlagenden Wirkung gehört. Dies trifft auch auf die Landschaft zu. Das Image einer Landschaft bestimmt zu einem großen Teil den Umgang mit der Landschaft. Viele Landschaften werden als rein „natürlich“ empfunden, der enorme Einfluss des Menschen auf diese Landschaften wird kaum wahrgenommen. Hierfür können etwa der Bowland Forest und das Lune Valley in Lancashire in England als gutes Beispiel dienen: Das fruchtbare Lune Valley mit seinen grünen Weiden, seinen Dörfern, Kirchen und Burgen wird allgemein als wertvolle Kulturlandschaft angesehen, die es zu schützen gilt. Der benachbarte Bowland Forest dagegen wird als düstere, abweisende Moor- und Heidelandschaft empfunden, die bestenfalls zur Moorhuhnjagd taugt. Die zahlreichen Feldmauern und die typische Heidevegetation selbst bezeugen aber den großen Einfluss, den die Viehwirtschaft auf das Land hatte, das als königlicher Forst eine ganz eigene und faszinierende Geschichte hat.

In Dowris in Irland sehen wir eine ebene Moorlandschaft, die zum Teil heute noch großflächig zur Gewinnung von Torf für die nahe gelegenen Heizkraftwerke abgegraben wird. Dies ist eine Landschaft, die kaum jemand als „schön“ bezeichnen würde und den meisten Besuchern als natürlich gewachsen erscheint. Tatsächlich aber ist die Entstehung des Torfmoores selbst, wenn auch ungewollt, das Resultat menschlicher Aktivitäten und der Torfabbau, der weder nachhaltig noch wirtschaftlich ist, wird inzwischen aus kulturellen und gesellschaftlichen Gründen betrieben. Denn als Irland in den 20er Jahren des letzten Jahrhunderts die politische Unabhängigkeit erreichte, versuchte es auch bei der Energieversorgung unabhängig von der bisherigen Kolonialmacht England zu werden. So war es nur folgerichtig, dass man nicht nur die Dampflokomotiven der irischen Eisenbahn mit Torf feuerte, sondern auch seine Wohnung anstelle mit britischer Kohle mit irischem Torf heizte. Das Torffeuer im dafür eigens umgebauten Kamin ist inzwischen auch für den Touristen ein Bestandteil der irischen Tradition und Identität.

Wie viele andere Mittelgebirgsregionen in Europa ist auch der Spessart vom Image der Armut geprägt. Armut wird oft mit einem Mangel an Geschichte gleich gesetzt. Obwohl diese Landschaft schon vor acht Jahrtausenden, zum Beginn der Jungsteinzeit, von Ackerbauern und Viehzüchtern besiedelt wurde, obwohl sie eine bewegte Geschichte mit Höhen und Tiefen aufweist, dominiert doch die Armut in der jüngeren Vergangenheit, im 19. und frühen 20. Jahrhundert, das kollektive Gedächtnis. Daher werden selbst in Zeiten zunehmenden Interesses am eigenen kulturellen Erbe immer noch historische Strukturen und Gebäude entsorgt, da sie vor allem als Zeugnis der Armut gesehen werden. Armut gilt als Schande. Der neu errungene Wohlstand soll möglichst offen dargestellt werden. Aber auch neue Siedlungsformen beeinflussen die Art, wie Menschen über ihre Landschaft denken. Während der letzten Jahrzehnte sind viele Menschen aus den umliegenden Städten in den Spessart gezogen. Einige haben alte Bauernhöfe gekauft, meist bauten sie jedoch neue Häuser in neu angelegten Ortsteilen. Inzwischen besteht die Bevölkerung des Spessarts zu etwa 50% aus alteingesessenen und zu 50% aus zugezogenen Bewohnern. Die meisten der Neubürger in der ersten oder zweiten Generation verdienen ihren Unterhalt weiter in den Städten, geben hier auch viel Geld für Konsum, Unterhaltung und Kultur aus, während sie in der „gesunden“, „grünen“, „natürlichen“ Umgebung ihre Kinder großziehen, vermeintlich fern von Sex, Drogen und Gewalt. So entsteht ein idealisiertes Bild der Landschaft, das wenig mit der Realität zu tun hat, aber den Wünschen und Interessen der Menschen entspricht, die sich entschlossen haben hier zu leben.

Wenn man den Landschaftswandel beeinflussen will, sind die Ideen und Vorstellungen der Menschen von entscheidender Bedeutung – sowohl jener Menschen, die in der Region leben, als auch die jener Menschen, die sie besuchen, um hier Erholung zu finden. Unverständnis wird jeden Ansatz zum Landschaftsmanagement zunichte machen. Natürlich leben wir in Zeiten eines raschen Wandels, was sich auch auf die Landschaft auswirkt. Man sollte dabei allerdings berücksichtigen, dass die Landschaft niemals statisch war. Landschaft lebt und so wie die Natur sich auch ohne menschlichen Einfluss verändert und wandelt, so entwickelt sich auch jede Landschaft. Dies ist umso mehr der Fall, als Landschaft sowohl natürliche als kulturelle Elemente in sich vereint. Landschaft ist ein Prozess. Um die Landschaft zu pflegen muss man diesen Prozess verstehen. Andernfalls wird jeder Entwicklungsplan fehlschlagen. Landschaft muss nicht nur dreidimensional, sondern vielmehr vierdimensional verstanden werden. Die vierte Dimension, die Zeit, verlangt das Verständnis der Geschichte und der Entwicklung der Landschaft, nicht nur während der letzten Jahrzehnte, sondern über lange Zeiträume hinweg. Um die Landschaft zu verstehen, muss man die Wechselbeziehung zwischen Natur und Mensch verstehen. Landschaftsmanagement sollte nicht nur den Investoren, Planern, Ingenieuren und Landschaftsarchitekten überlassen werden, sondern muss auch Archäologen, Ethnologen, Historiker und Volkskundler einbeziehen. Während schon heute die Ökologie einen gesetzlich verpflichtenden Beitrag zum Landschaftserhalt leistet, werden die kulturellen Aspekte der Landschaft vernachlässigt.

Man kann sich fragen, warum es überhaupt wichtig ist den Landschaftswandel zu steuern, wenn Landschaft sich, wie oben dargestellt, ohnehin ständig verändert. Eine Antwort liegt in der Geschwindigkeit und Massivität des Wandels, die wir heute beobachten. Wir laufen Gefahr den ureigenen Charakter einzelner Landschaften zu verlieren und bewegen uns auf eine gleichförmige, gleichsam globalisierte Landschaft zu. Wir sehen viele zerstörte Landschaften, die alle Attraktivität für ihre Bewohner wie für Außenstehende verloren haben. Ökonomische und soziale Probleme sind die unvermeidliche Folge. Reiche und vielgestaltige Landschaften haben einen hohen gesellschaftlichen Wert. Ihre Eigenarten machen sie für Touristen interessant, denn die Wahrnehmung des „Besonderen“, „Eigenständigen“, „Andersartigen“ ist ein fester Bestandteil des Urlaubserlebnisses und der Erholung. Eine positive Identifikation mit der eigenen Landschaft ist ein wichtiger Faktor des Wohlbefindens. Vernachlässigung oder falsches Management zerstören diese positive Identifikation und führen zu wirtschaftlichem Niedergang eines Gebietes, zu erhöhter Gewaltbereitschaft, Alkoholismus und Kriminalität und verursachen der Allgemeinheit langfristig wesentlich höhere Kosten, als ein intelligentes Management kurzfristig erfordert. Die Bedeutung eines vernünftigen Umgangs mit der Landschaft wurde auf europäischer Ebene durch wichtige Konventionen und Direktiven gewürdigt, etwa der Europäischen Landschaftskonvention des Europarats und den Empfehlungen zur Raumordnung des Ministerrates der Europäischen Union.

In den letzten Jahren wurde die hohe Bedeutung der Artenvielfalt weitgehend akzeptiert. Dies ist nicht nur einer hervorragenden Lobbyarbeit ökologischer Interessensgruppen zu danken, sondern auch der Erkenntnis mächtiger Konzerne, dass Biodiversität einen nicht zu unterschätzenden wirtschaftlichen Wert darstellt. Hier liegt eine nie versiegende Quelle neuer Patente. Biotechnologie, Bionik oder Pharmazie sind nur einige Branchen, die aus diesem reichen Vorrat Gewinn ziehen und ihm nicht nur neue Substanzen sondern auch Ideen verdanken. Seit Flugzeuge Sprit durch Haihautfolien sparen und Geld durch selbstreinigende Fenster und Fassaden gespart wird, deren Oberfläche nach dem Vorbild bestimmter Blüten gestaltet ist, kann niemand mehr den hohen wirtschaftlichen Wert des Schatzhauses Natur bestreiten. Wir brauchen dieses Verständnis auch für die kulturelle Vielfalt, die eine ebenso reiche Quelle darstellt. Ihr sozio-ökonomischer Wert muss betont werden und sie muss gründlicher erforscht werden. Der Rahmen, in dem sich diese Vielfalt entwickelt, ist die Landschaft. In ihr vereinen sich natürliche und kulturelle Faktoren.

Die Herausforderungen an ein zukünftiges Landschaftsmanagement sind daher:

  • Ein besseres Verständnis der Prozesse zu erreichen, die unsere heutige Landschaft geformt haben, um ihre zukünftige Entwicklung und die Auswirkungen spezifischer Entscheidungen besser vorhersagen zu können.
  • Die Menschen und die Zivilgesellschaft besser in die Entscheidungsprozesse einzubinden, ihre Ideen und Konzepte in den Entwicklungsprozess zu integrieren und sie zu Pflegern ihrer eigenen Landschaft zu machen.
  • Den wahren Wert der Vielgestaltigkeit der Landschaften, Biodiversität wie kulturelle Vielfalt, besser zu erforschen und dar zu stellen, um Argumente für eine intelligentere und nachhaltigere Landschaftsentwicklung zu erhalten.
  • Zum Schluss, doch am Wichtigsten: individuelle Strategien für individuelle Landschaften zu entwickeln. Dies ist in Zeiten voranschreitender Standardisierung und ständiger Forderungen nach einfachen, global anwendbaren Lösungen besonders schwierig. Vielfalt bedarf unterschiedlicher Methoden oder sie wird unausweichlich zur Einfalt.