Der Spessart als Kulturlandschaft –
Das Archäologische Spessartprojekt

von Gerhard Ermischer*

Der Spessart als Kulturlandschaft – dieser provokante Titel widerspricht jedem gängigen Klischee einer Waldlandschaft, die als urtümlich, natürlich und vom Menschen weitgehend unberührt gesehen wird. Ein Klischee, das gleich in drei besonders einflussreichen Werken der deutschen Literaturgeschichte gepflegt wird: dem mittelalterlichen Nibelungenlied, dem Simplicissimus und dem Wirtshaus im Spessart. Doch wird etwas wahr, nur weil es oft genug wiederholt wird? Hier lohnt ein näherer Blick auf die beliebtesten Zitategeber. Das Nibelungenlied ist zweifellos das bedeutendste Epos des deutschen Mittelalters. Weit zweifelhafter hingegen erscheint die beliebte Gleichsetzung des hier erwähnten „Spechtshart“ mit dem heutigen Spessart, die schon Rudolf Virchow in seiner berühmten Studie über die Armut im Spessart als unsicher erschien. Grimmelshausens Roman „Der Abenteuerliche Simplicissimus“ ist sicher der Schlüsselroman des Barock und des Dreißigjährigen Krieges, doch ebenso ist er damit eine Momentaufnahme einer Extremsituation, die Grimmelshausen selbst, im Bezug auf den Spessart, zur Zeit der Abfassung nur noch aus ferner Erinnerung kannte. Und schließlich der vielleicht wirkungsvollste Roman, zumindest was den Spessart angeht. Wilhelm Hauffs romantische Räuberpistole „Das Wirtshaus im Spessart“ hat, nicht zuletzt dank der nicht minder romantischen Verfilmung mit Liselotte Pulver, das Bild vom Spessart geprägt und verfestigt: Der Spessart ist ein Wald, ist ein Wald, ist ein Wald – und darin bestenfalls ein paar Glashütten und eine Menge Räuber.

Dieses Bild findet sich nicht nur in der populären Literatur, sondern auch in historischen und archäologischen Werken. Der Spessart hat ein Imageproblem, das er mit vielen anderen als abgelegen, entwicklungsschwach und arm apostrophierten Gegenden teilt. Das Bild ist so verfestigt, dass man kaum noch nachfragt, geschweige denn hinschaut, um es zu verifizieren oder gar neu zu definieren. Auch den Menschen vor Ort ist das Klischee meist in Fleisch und Blut übergegangen. Die altansässige Bevölkerung verbindet ohnehin mit dem Wort Vergangenheit fast automatisch das Wort Armut – von der Vergangenheit will man daher gar nichts wissen, ihre ungeliebten Zeugnisse möglichst rasch loswerden, um zu zeigen, dass man inzwischen Anschluss an die Wohlstandsgesellschaft gefunden hat. Die zahlreichen zugezogenen „Stadtflüchtlinge“ aus den Ballungszentren um den Spessart haben viel zu diesem Wohlstand beigetragen, ihr Bild vom Spessart ist aber noch geschichtsloser. Schließlich wollte man ja aus der Stadt ins „Grüne“, in die unberührte Natur – Kultur, Geschichte das gehört in die urbanen Zentren, in denen man arbeitet, Geld verdient oder auch ausgibt, sich amüsiert, ins Theater oder Museum geht, im Wald sucht man nach Erholung und Ruhe fern des menschlichen Getümmels, da stört das Bewusstsein nur, der Wald könnte in seiner heutigen Gestalt wesentlich ein menschliches Produkt sein.

Das Imageproblem des Spessart war auch ein wichtiges Thema im bayerisch-hessischen Spessartprojekt, einem Versuch über die Verwaltungsgrenzen hinweg, die den Spessart heute teilen, diese Landschaft insgesamt zu fördern. In diesem Rahmen entstand auch das archäologische Spessartprojekt. Die Zusammenarbeit zwischen bayerischen und hessischen Archäologen machte rasch die Defizite in der Forschung klar. Die Grenze zwischen Bayern und Hessen, die mitten durch den Spessart verläuft, hatte zu ganz unterschiedlichen Forschungsschwerpunkten auf beiden Seiten geführt. Ein einheitliches Bild von der Entwicklung der Landschaft zu zeichnen, schien geradezu unmöglich. Daneben waren große Baumaßnahmen im Spessart selten, der Denkmalpflege erschien der Spessart daher als erfreuliches Reservat, die spärlichen Kräfte mussten in den Ballungszentren gebündelt werden, dem Spessart galt nur ein peripheres Interesse. Dies sollte nun durch die Arbeitsgruppe Archäologie, in der vor allem die Kreisarchäologie Gelnhausen, das hessische Landesamt für Denkmalpflege und die Museen der Stadt Aschaffenburg aktiv waren, grundlegend geändert werden.

Die Aufarbeitung alter Fundberichte, eine unbefangenere Sicht auf das Quellenmaterial und vor allem der Kontakt mit Kollegen aus benachbarten Disziplinen, führte dabei immer mehr zu einem veränderten Bild der Entwicklung im Spessart. In den Bereichen Montanistik, Wirtschafts- und Sozialgeographie, Quartärgeologie, Paläobotanik, Botanik und Zoologie wurden in den letzten Jahren zahlreiche Arbeiten über den Spessart erstellt oder werden derzeit gerade Forschungsprojekte und Untersuchungen durchgeführt. Diese Arbeiten zeigen den Spessart als ganz wesentlich vom Menschen geprägte und überformte Landschaft. Doch blieben sie, ohne Rückendeckung aus den historisch-archäologischen Disziplinen, in der Aussage zur Entwicklung des Spessart unklar. Der Bedarf, die vielfältigen Ergebnisse und Ansätze aus diesen Bereichen zusammenzuführen und historisch und archäologisch auszuwerten, gestaltete auch das archäologische Spessartprojekt. Die Zusammenarbeit mit ähnlichen archäologischen Regionalprojekten in Dänemark, Schweden, Norwegen und Estland, im gemeinsamen Projekt „European Cultural Paths“, führte nicht nur zur Förderung durch das RAPHAEL-Programm der Europäischen Kommission, sondern stärkte auch den Forschungsschwerpunkt „Kulturlandschaft“.

Für das Projekt wurde eine ABM-Stelle für einen Wissenschaftler geschaffen, daneben werden einzelne Arbeiten über Werkverträge und Aufträge an private Firmen sowie in Kooperation mit Universitäts- und Forschungsinstituten erledigt. Diplomarbeiten und Dissertationen sollen das Projekt begleiten. Um diese Maßnahmen durchführen zu können wurde ein eigener Verein gegründet.

Zieht man eine erste Zwischenbilanz, so zeigt sich der Erfolg des Projekts auf verschiedenen Ebenen. Erstens ist es gelungen, eine weitreichende multidisziplinäre Zusammenarbeit zu organisieren und zahlreiche Forschungsvorhaben im Spessart zu koordiniern, wodurch sie sich gegenseitig befruchten und stärken. Hier seien die Zusammenarbeit mit den Universitäten Würzburg, Mainz und Frankfurt, der TU Berlin, dem Senckenberg-Institut Frankfurt und vor allem dessen Außenstelle für Mittelgebirgsforschung in Biebergemünd, im „tiefen“ Spessart, sowie den Landesämtern für Denkmalpflege in Bayern und Hessen hervorgehoben. Daneben ist aber ein besonderer Erfolg des Projekts in der Mobilisierung von Menschen und Organisationen im Spessart selbst zu sehen, die in dem Archäologischen Spessartprojekt einen wichtigen Beitrag zur Schaffung einer neuen, kulturellen Identität ihrer Landschaft sehen. Die Zusammenarbeit mit der Bayerischen Akademie für Naturschutz und Landschaftskunde und den von ihr ausgebildeten, staatlich geprüften Landschaftsführern, mit Förstern, Heimatvereinen und interessierten Menschen aus der Region trägt zu dieser notwendigen Identitätsstiftung bei. Die Förderung des Projekts durch die kommunalen Verwaltungen und die Einbindung in Themen wie Agenda 21, Tourismusförderung und die Erstellung von Zielvorgaben für die Landschaftsentwicklung, etwa in einem regional-ökologischen Gutachten, gehen zwar weit über die archäologische Forschung hinaus, fördern aber die Akzeptanz des Projekts in einer breiten Öffentlichkeit, erleichtern die Popularisierung wissenschaftlicher Forschungsergebnisse und erfüllen eine wichtige soziale Aufgabe der Wissenschaft – gestalterisch in ihrer Umwelt zu wirken. Dass dieses Bestreben auf fruchtbaren Boden fällt, zeigt auch die Unterstützung, die das Projekt durch Firmen und Stiftungen aus dem Bereich der Industrie erfährt.

Zusammenfassend kann man sagen, der Spessart muss als Kulturlandschaft gesehen werden, die seit dem Neolithikum vom Menschen immer wieder aufgesucht und ausgebeutet wurde. In unterschiedlichen Epochen als Siedlungsraum, Rohstoffquelle und Verkehrsweg genutzt, hat der Naturraum dabei eine grundlegende Veränderung erfahren, die durch die gezielte Aufforstungspolitik seit dem späten 18. Jahrhundert heute verschleiert wird. Doch auch hier hat schon Virchow mit scharfem Blick erkannt, dass der romantische Eichenmischwald, der sich „wie ein großer Park“ ausbreitet, „das schönste Muster deutscher Forstcultur“ ist, und keineswegs ein unberührter Naturwald. Es haben sich im wieder zunehmenden Wald aber auch zahlreiche Zeugnisse seiner Erschließung erhalten: Hutebuchen, Hecken, Lesesteinmauern und -haufen, Siedlungsterrassen, Weinbergterrassen, Wässerwiesen, Hohlwege, Köhlerplätze, Glashütten und Kalkbrennöfen ebenso wie Burgställe, vorgeschichtliche Grabhügel oder Ringwälle. Es ist ein wesentliches Ziel des Archäologischen Spessartprojekts, durch Beschilderung und Rekonstruktion an ausgewählten Beispielen sowie durch die Ausbildung von Landschaftsführern und Öffentlichkeitsarbeit das Bewußtsein für diese Zeugnisse einer reichen Vergangenheit zu schärfen und den Erhalt der Vielfalt einer in Jahrtausenden der Nutzung durch den Menschen entstandenen Kulturlandschaft zu fördern.


* Überarbeitete Fassung eines Artikels, veröffentlicht in „Das Archäologische Jahr in Bayern“ 1998, 153-155.