Adalbert von Herrlein (Pfarrweisach 1798 – Aschaffenburg 1870)
Die Sagen des Spessarts, 1851
Am Haibacher Kreuz
Einst stand in der Nähe des Dorfes Haibach eine Burg, worin der Junker von Haydebach wohnte… Freilich, einen großen Fehler hatte der adelige Jüngling!.. Jedes hübsche Mädchenantlitz konnte sein Herz in Brand setzen, ganz gleich, ob es vom hohen Söller oder einem schmalen Hüttenfenster schaute. Nun hatten zwei Hintersassen des Junkers je eine hübsche Tochter. Sie hießen Maria und Gertrude, waren Nachbarskinder und miteinander aufgewachsen, und sie liebten sich gegenseitig so herzlich und innig, wie zwei Schwestern. [Der Junker beginnt ein Verhältnis mit beiden Mädchen.]…
Da nahm sie [Maria] an, dass Gertrude eine Zusammenkunft mit dem Junker habe, und darum war sie auch schnell entschlossen, ihr mit Sichel und Grastuch zu folgen… Maria konnte sich nicht halten, das Blut kochte ihr in den Adern. Die blassen Wangen vor Zorn gerötet, stürzte sie auf ihre verhasste, falsche Freundin zu. Sie warf Gertrude ihre Falschheit, ihren Verrat an der Freundschaft vor, sie nannte sie eine leichtfertige Dirne und erhob in der Hitze sogar die Hand mit der Sichel, um Gertrude einen Schlag zu versetzen. Da ergriff der Zorn auch Gertrude; sie wich dem Schlage nicht aus, sondern schlug dagegen und der erbitterte Kampf dauerte so lange, bis zwei Herzen zu schlagen aufgehört hatten, die vorher in so inniger Liebe sich zugetan waren. Als der Junker kam, fand er zwei blutige Leichname mit verzerrten Zügen und weit aus dem Antlitz hervorgetretenen Augen. [Aus schlechtem Gewissen macht sich der Junker auf eine Pilgerfahrt ins heilige Land.] …
Mehr als vierzig Jahre waren verflossen. Die Burg und die Güter des Junkers waren Lehen des Stifts Peter und Alexander zu Aschaffenburg und der Junker der Letzte seines Geschlechts. Als er mehrere Jahre verschollen war, hatte das Stift das Lehen eingezogen und die Burg brechen lassen. Wo Maria und Gertrude ihren Geist ausgehaucht hatten, wurden zwei steinerne Kreuze errichtet… Da fand man eines Tages zwischen den Kreuzen einen Pilger mit schneeweißem Haare und einem Muschelhut. Er schien zu schlafen, aber als man ihn wecken wollte, stand er nicht mehr auf, denn er schlief den ewigen Schlaf. Es war der ehemalige Junker von Haydebach… Führ ihn wurde ein drittes Kreuz errichtet, denn der Tod versöhnt und einigt ja alles.