Sage und Geschichte

Vom dubiosen Verhältnis zueinander*
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von Theodor Ruf

Junker Haydebach vor der Ketzelburg. Illustration zur Legende „Junker Rainer von Haydebach und die Drei Kreuze“ in der Edition von Franz Grossmann aus dem Jahre 1949.Am 1. April 1187 wird in der Stiftskirche St. Peter und Alexander zu Aschaffenburg eine Urkunde mit folgendem Inhalt ausgestellt: Gerhard, Burggraf der Stadt Mainz und Vogt der Aschaffenburger Kirche, verpfändet gegen eine nicht unbedeutende Summe seine Besitzungen in (Ober-) Bessenbach und Haibach (Hegebach) an das Stift St. Peter und Alexander in Aschaffenburg. Er kann diese Güter jährlich am 1. April zum gleichen Preis zurückkaufen. Den Ertrag der Güter erhalten die Geistlichen des Stifts; gleichzeitig soll diese Überlassung aber dem Seelenheil des Stifters dienen, es soll für ihn gebetet werden1.

Was wie eine mehr oder weniger eigennützige Geste der Wohltätigkeit erscheint, ist keine solche. Die näheren Umstände sind komplex, tun hier nichts zur Sache und können an anderer Stelle nachgelesen werden2. Jedenfalls: Der Urkundenaussteller gehört zum Geschlecht der Grafen von Rieneck, die, von ihrem Zentralort Lohr am Main ausgehend, in dieser Zeit ihre Macht im Spessart ausbauen wollen und häufig auf den Widerstand des Erzbistums Mainz und des Stifts Aschaffenburg stoßen; die Auseinandersetzungen ziehen sich fast ein Jahrhundert lang hin. Die Aufgabe der Besitzungen 1187 erfolgt nicht unbedingt freiwillig; ganz verschwinden die Rienecker nie aus Haibach, mit oder ohne Unterbrechungen lässt sich Besitz des Grafenhauses bis 1515 nachweisen; das Geschlecht selbst erlischt mit Philipp III. am 3. September 1559.

An jenem 1. April 1187 wird „Haibach“ erstmals urkundlich überliefert, wobei kein Zweifel daran besteht, dass der Ort schon länger existierte, genau so wie die meisten Siedlungen im Spessartraum. Wie lange, ist meistens unklar und auch mäßig relevant, denn „älter“ oder „jünger“ ist kein Wertmaßstab. Ob 1187 die Ketzelburg aber bereits stand, das ist eine andere Frage.

Außer schriftlichen und archäologischen Quellen sind es mündliche Überlieferungen, die Hinweise auf die Geschichte eines Ortes geben können. Diese werden besonders im 19. Jahrhundert verschriftlicht und als „Sagen“ einem breiten überregionalen Publikum zugänglich gemacht. Eine solche Sage, Haibach betreffend, ist die (zusammengefasst) folgende3:

Die „Drei Kreuze“ halten noch bis in unsere Tage die Legende des unglücklichen Ritters von der Ketzelburg lebendig.Die drei Kreuze: Auf seiner Burg unweit Haibach hauste der Junker Reiner von Haydebach. Zwei seiner Bauern hatten bildschöne Töchter, Marie und Gertrud. Sie waren Nachbarskinder und liebten sich wie Zwillingsschwestern. Der Junker traf eines Tages Marie und verliebte sich in sie. Das Mädchen hatte den Junker früher oft gesehen und beklagt, dass sie kein Edelfräulein sei: vielleicht hätte sie dann der Junker als seine eheliche Haufrau heimgeführt. Marie hielt ihre junge Liebe vorerst selbst vor Gertrud geheim. Als aber der Junker ihr ewige Treue gelobt hatte, als sie sich bereits im Geiste als Burgfrau auf Haydebach sah, vertraute sie sich ihr an. Gertrud war ein gutes Mädchen, doch nicht frei von Neid und Eitelkeit. Sie hielt sich für schöner als Marie. Tag und Nacht quälte sie der Gedanke, dass Marie nun Edelfrau werden und sie Magd bleiben würde. Marie ahnte nichts von diesen Gedanken, sondern nahm die Freundin sogar zu den Verabredungen mit dem Junker mit.

Dieser indes dachte nicht daran, Marie zu heiraten. Zudem war Marie so tugendsam, dass ihm klar wurde, dass sie der Verführung nicht zugänglich sei. Deshalb kühlte seine Leidenschaft bald ab. Nachdem er Gertrud kennengelernt hatte und diese ihm auf halbem Wege entgegengekommen war, war es schnell um beide geschehen. Marie blieb das nicht verborgen. Verlassen von dem Geliebten, betrogen von der Freundin, getäuscht in ihren schönsten Hoffnungen, verwandelte sich ihre Seele ganz, das Lamm wurde zum Tiger. Ihr Hass richtete sich auf die Freundin, die, wie sie meinte, ihren Geliebten verhext hätte. Eines Abends traf sie Gertrud, die am Waldrand auf den Junker wartete. Beide Mädchen hatten ihre Sicheln dabei, weil sie ihren arglosen Eltern vorgetäuscht hatten, sie gingen zum Grasschneiden. Jetzt brach der Streit aus und die Mädchen durchbohrten sich mit ihren Sicheln. Der Junker kam und fand zwei kalte, blutige Leichen, deren Hände fest ineinander verschlungen waren: sie hatten sich versöhnt, ehe sie aus dem Leben schieden.

Die Tat wurde schnell bekannt, und der Junker wurde vor Gericht geladen, denn man meinte, er habe die beiden durch Zauberkünste in den Tod getrieben. Als man ihm keine Schuld nachweisen konnte, sollte er einem Gottesurteil unterworfen werden. Im Bewusstsein, dass sein Leichtsinn und seine Treulosigkeit den Tod der Mädchen verschuldet hatten, floh er und pilgerte nach Rom und an das Heilige Grab in Jerusalem, um seine Schuld zu büßen.

Die Jahre vergingen. Die Burg und die Güter des Junkers waren Lehen des Stifts St. Peter und Alexander zu Aschaffenburg gewesen, und der Junker war der Letzte seines Geschlechts. Als er verschollen war, zog der Stiftspropst die Lehen ein und ließ die Burg schleifen. An der Stelle, an der die beiden Mädchen sich getötet hatten, wurden zwei steinerne Kreuze errichtet.

Niemand dachte noch an den Junker. Da fand man eines Tages zwischen den zwei Kreuzen einen Pilger mit grauen Haaren, der zu schlafen schien. In Wirklichkeit war er tot. Als man ihn näher betrachtete, erkannte man in ihm den Junker Haydebach. Ein drittes Kreuz wurde neben den beiden anderen errichtet: der Tod versöhnt und eint alles.

Man kann davon ausgehen, dass Sagen einen im weitesten Sinne historisch wahren Kern besitzen. Das heißt aber nicht, dass das Ereignis sich so wie beschrieben in Haibach zugetragen haben müsste: Sagen sind Spiegel unterschiedlicher, zeitlich und räumlich oft auseinanderliegender Prozesse, sie geben selten das Bild eines einzigen Geschehens wieder, sondern verdichten unterschiedliche Grunderfahrungen zu einem facettenreichen Bild. Immer aber steht dahinter ererbte und erlebte Geschichte, stehen dahinter besonders prägnante Ausformungen des Alltagslebens oder besonders einschneidende Ereignisse. Häufig sind Sagen Zeugnisse vom gelebten, erwünschten oder unerwünschten Verhältnis zwischen Bevölkerung und Herrschaft. Sie entstehen nicht in einem einzigen Augenblick, sondern speichern Erfahrungen aus mehreren Erlebnisbereichen in sich, die sich im Laufe der Zeit zu einer mehrschichtigen Erzählung verdichten.

Auch in der Sage von den „Drei Kreuzen“ lässt sich solche Wirklichkeit herauslesen, eine Wirklichkeit, die aber allgemeingültig ist und keinesfalls ausschließlich auf Haibach bezogen werden kann4. Hier interessiert aber nur die Frage: weist diese Sage irgendeinen Bezug zur Ketzelburg auf?

Klar ist, dass in ihr deutlich wird: in Haibach gab es ortansässigen Niederadel, dessen Burg aber nicht lange Bestand hatte. Ein Geschlecht „von Haydebach“ ist allerdings urkundlich nicht nachweisbar, dagegen ist aber beispielsweise für das Jahr 1294 der Hof eines „Gerhard von Bessenbach“ bezeugt. Das Geschlecht „von Bessenbach“ tritt im Raum Aschaffenburg häufig auf. Daneben gibt es den Besitz der Grafen von Rieneck, welche diesen wohl auch von adeligen Vasallen oder Ministerialen verwalten lassen. „Adel“ ist also im Ort ansässig, aber nicht in der Art, dass er das ganze Dorf beherrschte oder wenigstens eine solche soziale Stellung hatte, dass er den Ortsnamen zu seinem Adelsnamen gemacht hätte, wie es zum Beispiel bei den Herren von Kälberau oder von Hösbach der Fall war. Freilich muss man berücksichtigen, dass die Quellen äußerst lückenhaft sind und man demnach nicht explizit ausschließen kann, dass es je einen „Ritter von Haibach“ gegeben hätte.

Auf der Ketzelburg saß also jemand, der von seiner Funktion her und wohl auch auf Grund von Eigenbesitz eine herausgehobene Rolle spielte. Aber wer war dieser Jemand? Der Beitrag von Lorenz Kemethmüller im vorliegenden Band geht der Frage nach und kommt zu fundierten Ergebnissen, die man jedoch weiterentwickeln kann: Wenn die genannte Quelle von 1189/90 von einer Bedrängung Mainzer Rechte durch eine Befestigung „vor den Toren Aschaffenburgs“ spricht, dann ist nicht absolut auszuschließen, dass die Ketzelburg gemeint sein könnte, genauso aber auch die Burg Waldenberg bei Kleinwallstadt oder die Burg Kugelberg über Goldbach. Vielleicht ist aber auch die erst später bezeugte rieneckische Burg „Landesehre“, die sich vermutlich auf dem Gräfenberg über Rottenberg befand. Wir wissen es nicht, wir werden es auch nie eindeutig beweisen können, und es ist auch egal. Egal? Ja, denn was wäre damit gewonnen, wenn man die Quelle eindeutig einer bestimmten Burg zuordnen könnte? Dass es im Zeitraum um 1200 Auseinandersetzung zwischen diversen Adeligen samt ihrer Klientel und dem Erzstift Mainz bzw. dem Stift Aschaffenburg gab, ist ohnehin klar. Höchstens könnte man sich fragen, ob die kleine und einfache Ketzelburg als „Bedrängung“ empfunden werden konnte.

1196/97 bittet Erzbischof Konrad von Mainz Kaiser Heinrich VI. um ein Mandat gegen seinen Vasallen und Lehensmann, den Grafen Gerhard III. von Rieneck, da er ihm die Gefolgschaft verweigere. Es heißt, der Rienecker habe von Mainz „einige Burgen“ (quedam castella) inne. Welche? Wir können es nur vermuten, ergo vermuten wir mal, damit sei auch die Ketzelburg gemeint. Ist sie es, dann ist es gut. Ist sie es nicht, dann ist es auch gut. Interessanter ist da schon die Frage, ob die Familie des Friedrich von Kesselberg, der in der 1. Hälfte des 13. Jh. im Spessartraum auftaucht, etwas mit der Ketzelburg zu tun gehabt haben könnte. Lorenz Kemmethmüller verneint dies, hauptsächlich wegen „sprachlich unüberbrückbarer Differenzen zwischen den Wörtern ‚Kesselberg‘ und ‚Ketzelburg‘“. Aber reichen diese sprachlichen Argumente aus? Immerhin ist ja der Name als „Ketzerburgk“ sowieso erst 1540 überliefert, wie sollte man also entscheiden, wie der Name mehr als 300 Jahre zuvor ursprünglich lautete? Aber ob die Kesselberger der „Burg“ ihren Namen gaben oder nicht: es ist ja auch nicht gesagt, ob und wie lange die Anlage in der Hand eines einzigen Geschlechts lag, ob sie vererbt oder verkauft wurde, ob verschiedene Besitzer untereinander verwandt waren. Und es ist auch gleichgültig. Gleichgültig? Ja, denn es ist ohnehin klar, dass der gesamte Niederadel wie auch der Hochadel untereinander verwandt war, und es ist müßig, mit mehr oder weniger gewagten Thesen diese Verwandtschaften eruieren zu wollen, wie es die Lokalhistorie gerne tut. Denn wenig lässt sich beweisen, und meistens kann es auch anders sein, als es vielleicht ist. Am Prinzip der bekannten Herrschaftsstrukturen ändert es nichts, auch wenn wir „wissen“, dass die Herren von X mit den Herren von Y und noch dazu mit denen mit Z verwandt gewesen sind.

Fragen sollte man lieber danach, wann die „Ketzelburg“ möglicherweise entstanden ist und warum und wann sie aufgegeben wurde. Die Archäologie liefert Antworten, und die Forschungen der letzten Jahre sind ja auch der Grund dafür, dass die vorliegende Schrift entstand. Die gegenwärtige Vermutung aufgrund der Funde ist, dass die Ketzelburg in der 2. Hälfte des 12. Jahrhunderts entstand und wohl schon bald, um oder noch vor 1200, aufgegeben wurde. Bei allem Respekt vor der Archäologie – und in Unkenntnis dessen, was die vorliegende Untersuchung dazu noch alles aussagt – ist da nicht der Wunsch der Vater des Gedankens? Der genannte Zeitansatz passt sehr gut in die Geschichte der Befestigungen im Spessart – aber lassen sich Mauerreste und Keramik wirklich so (!) genau datieren? Was, wenn die Burg nun schon 50 Jahre früher entstand? Die ketzerische Antwort auf die ketzerische Frage zur „Ketzerburgk“: wieder ist es „egal“. Historiker sind keine Jäger auf der Spur einer verlorenen Jahreszahl. Die Burg hatte einst eine Funktion, und als sie diese nicht mehr hatte, wurde sie aufgelassen. Und hier ist klar: militärisch oder territorialpolitisch bedeutsam kann sie aufgrund ihrer Größe und Lage nicht gewesen sein. Sie sollte eine Verbindung schaffen zwischen dem Aschafftal und dem Tal von Bessenbach, sie war ein Repräsentationsobjekt einer relativ vermögenden „adeligen“ Familie, und als der Bau altmodisch und unbequem wurde, hat man ihn verlassen. Ob ein Zwang territorialpolitischer Macht dahinterstand, denn ein Signal für einen Besitzanspruch war die Ketzelburg natürlich auch, sei offengelassen. Zu einer Großburg konnte man sie aufgrund der Lage sowieso nicht ausbauen, und es hätte auch keinen einleuchtenden Grund dafür gegeben. Die Zeit ging einfach über sie hinweg. Weder Anfang noch Ende bedürfen eines „dramatischen“ Ereignisses. Natürlich heißt das alles nicht, dass man sich um die ganze Sache nicht kümmern sollte und alle Forschung nutzlos sei. Die Ketzelburg bereichert unser Wissen in vielen Punkten – aber sie verändert nicht das, was wir ohnehin schon über die Herrschaftsgeschichte unseres Raumes wissen.

Was aber ist mit der eingangs dargestellten Sage? Sagt sie etwas Tatsächliches über die Ketzelburg aus? Diese Frage lässt sich nur beantworten, wenn man nach der Überlieferung der Sage fragt:

Alexander Schöppner schreibt in der Einleitung seines Werkes „Sagenbuch der Bayerischen Lande“ von 1852:

(…) Die Bedeutung der Volkssagen neuerdings zum Bewußtsein geführt zu haben, muß als gemeinsames Verdienst der Romantiker und der Germanisten bezeichnet werden. Man hatte vordem alle diese Dinge, die das gutmütige Volk als Sagen, Märchen und Legenden im Mund führte, von seiten der kritischen Meister als eitel Lug und Trug, Aberglauben und Fabelwerk gebrandmarkt. Wenn Geschichtsforscher des vorigen Jahrhunderts, wie der ehrliche J. H. v. Falkenstein, dergleichen Lappalien ja noch der Aufzeichnung wert hielten, so geschah es nur mehr, um den Lesern hie und da einen Spaß zu machen, nicht ohne männigliche Verwahrung von wegen zuzumutender Leichtgläubigkeit. Ein späteres Geschlecht – jener Periode, da man mit dem Aberglauben zugleich den Glauben austrieb – hielt solcherlei Dinge nicht mehr der Rede wert. Das hat ein halberstädtischer Bauer gar treffend gesagt: »Der Alte Fritz hat die Zwerge verjagt, aber Napoleon hat allen Spuk aus dem Lande vertrieben.« Gerade um diese Zeit Napoleons erfuhr die deutsche Literatur einen raschen und seltsamen Umschwung durch die Romantiker. An die Stelle der französischen Verstandeseinseitigkeit trat eine bis an Fieberhitze grenzende Gefühlsinnigkeit.

Nun wurde das Mittelalter und mit ihm das alte romantische Land der Märchen und Sagen betreten. Dichter, Sprach- und Geschichtsforscher wanderten gemeinsam dahin und brachten vieles, was vordem der Verachtung preisgegeben war, in der Wissenschaft wie beim Volk zu Ehren. Von diesem Zeitpunkt schreibt sich ein eifriges Streben, jene einfältigen, von Poesie durchhauchten Klänge der Sage aus dem Mund des Volkes zu erlauschen und für Zwecke der Forschung wie der Unterhaltung zusammenzubringen. Die Dichter fanden nämlich, daß in diesen verachteten Kleinigkeiten ein reichhaltiger Fonds urfrischer Begeisterung verschlossen liege. Den Mythenforschern ging eine neue Welt auf: man denke nur an Grimms Mythologie. Die Geschichtsschreiber bemerkten, wie die Sage oft wunderbaren Beleg für anderweitig Erkanntes oder Fingerzeige und Wege zu erfolgreicher Weiterforschung oder Einblicke in den Geist der Zeiten gewähre. Als nun die beiden Grimm nach unbedeutenden Vorgängern den ersten Versuch machten, die deutschen Sagen mit Ausnahme der größeren Heldensagen in einer dem Volk mundgerechten Sammlung ans Licht zu stellen, war der Anstoß zu einer ganzen Literatur gegeben; denn nun setzten sich allerorts in Deutschland die literarischen Bergleute in Bewegung, stiegen nieder in Gruben und Schächte, in Grüfte und Klüfte, zu den Zwergen und Wichtlein, den Kobolden und Elfen und förderten das edle Metall der Sage klumpenweise zutage. Es wurde gesammelt in allen Gegenden Deutschlands, mit mehr oder weniger Treue, mit mehr oder weniger Vollständigkeit. (…)

Ein neuer Versuch wurde in den »Geschichten, Sagen und Legenden des Bayerlandes« von B. Mertel und G. Winter gemacht. Die Herausgeber dieser seit 1845 zu Nürnberg ohne Verlagsangabe in vier Bändchen erschienenen Sammlung haben die Sagen keineswegs in ihrer Einfachheit und Treue belassen, sondern auf unverantwortliche Weise umgestaltet, erweitert, in Erzählungen und Novellen verwandelt. Das gleiche geschah in einem früheren Buch: »Bayerische Volkssagen«, von H. Willing, Nürnberg 1826, 2 Bändchen. Darin ist von »Volkssagen« in der Tat keine Spur zu finden. Dieserart sind manche der schönsten und gehaltvollsten Sagen von unverständigen Schreibern für Unterhaltungsblätter bearbeitet, zugestutzt, entstellt und vernichtet worden. (…) Unter den Monographien stehen die unterfränkischen von Ludwig Bechstein (»Die Sagen des Rhöngebirges und des Grabfeldes«, Würzburg 1842) und Adalbert von Herrlein (»Die Sagen des Spessarts«, Aschaffenburg 1851) obenan. Beide Schriften enthalten zwar vieles eher der Geschichte als der Sage Angehöriges – Bechsteins Sammlung außerdem eine große Anzahl außerhalb Bayern fallender thüringischer Sagen –, jedoch haben beide das Verdienst, die Sagen treu und volkstümlich erzählt zu haben, so daß ich nur wünschen wollte, es möchten sich alle Gaue des Vaterlandes so vollständiger Monographien als die Rhön und der Spessart zu erfreuen haben. Quellen sind in beiden Schriften leider nicht verzeichnet. (…)

Zunächst war die Frage nach meinem Leserkreis zu erledigen. Etliche Sagenforscher hatten die Gelehrten, etliche das Volk, etliche beide zugleich vor Augen. Mir schien es vor allem ein verdienstliches Unternehmen, dem Volk den Sagenschatz des Vaterlandes in die Hand zu geben. Das ist der Standpunkt, von dem aus diese Sammlung erwachsen ist. Denn wie die Sage ein treuer Spiegel ist, in dem sich des Volkes innerstes Sinnen und Leben, Glauben und Lieben offenbart, so hat die Sage hinwiederum für das Volk unverkennbaren ethischen Wert, denn sie erfreut, erhebt und rührt nicht nur die Gemüter, sondern lehrt, warnt, tröstet durch die Macht des Beispiels und der überall in starken Zügen hervortretenden göttlichen Gerechtigkeit. Die Sage ist die eigentliche und echte Volkspoesie. Diese neben dem religiösen Glauben hat eine viel höhere Bedeutung für die Veredelung und Sittung des Volkes, als Leute, die neuerdings über die Abhilfe der Notstände des Volkes geschrieben haben, vermuteten. In dem Grad, als trostlose Afterbildung und sogenannte Aufklärung das Volk seines Gemüts- und Gefühllebens beraubte, haben der Materialismus, die Ungenügsamkeit und die Unseligkeit zugenommen. Die Aufgabe der Lehrer und Erzieher des Volkes wird es sein, gegenüber dürrer Verstandeskultur und einseitiger Unterrichterei mit allen Mitteln auf die Bewahrung eines der Natur des Volkes gemäßen edlen Gemütslebens hinzuwirken.

Wie das geschehen könne, mag an anderem Ort entwickelt werden; hier genüge die Bemerkung, daß die Beachtung ureigener Sitte und alten Herkommens, die Bewahrung heimatlicher Geschichte und Sage in örtlicher Beschränktheit kein unbedeutendes Moment wahrhafter Volksbildung ist, wie das vor mehr als dreißig Jahren die Brüder Grimm angedeutet haben, wenn sie die »Deutschen Sagen« mit den Worten einleiten: »Es wird dem Menschen von Heimats wegen ein guter Engel beigegeben, der ihn, wann er ins Leben auszieht, unter der vertraulichen Gestalt eines Mitwandernden begleitet; wer nicht ahnt, was ihm Gutes dadurch widerfährt, der mag es fühlen, wenn er die Grenze des Vaterlandes überschreitet, wo ihn jener verläßt. Diese wohltätige Begleitung ist das unerschöpfliche Gut der Märchen, Sagen und Geschichte, die nebeneinanderstehen und uns nacheinander die Vorzeit als einen frischen und belebenden Geist nahezubringen streben.«

Dieser erklärten Hauptrücksicht meines Buches auf einen größeren Leserkreis aus dem Volk widerstreitet die wissenschaftliche Rücksicht so wenig, daß ich nur auf Grimms Sammlung oder zehn andere hinweisen darf, um den augenscheinlichen Beweis zu liefern, wie gut sich jene beiderseitigen Anforderungen vereinigen lassen.

Demgemäß blieb vergleichende Sagenforschung zur Gewinnung wissenschaftlicher Resultate von meinem Vorhaben ausgeschlossen. Es sollte vorerst das Material gesammelt und vermehrt, eine Art Kodex vaterländischer Sage aufgestellt, Zwecke der Forschung aber nicht abgewiesen, sondern nur auf andere Zeit und Gelegenheit verwiesen werden. Darum enthielt ich mich allen Hervorhebens verwandtschaftlicher Beziehungen der Sagen – so nahe es oft lag –, weil außerdem die Sammlung einen ganz veränderten Charakter annehmen mußte. (…)

Hiermit empfehle ich mein Buch allen Liebhabern nicht nur bayrischer, sondern deutscher Volkspoesie, Geschichte und Sprache; vorab all denen, die gern dem Geräusch des Lebens in die stille Natur, in die frische Waldeinsamkeit, in das Gebüsch verfallener Burgen enteilen, um dort den Stimmen der Berg- und Waldgeister, dem Wehklagen verwünschter Jungfrauen, den Sirenenklängen der Feen und Nixen ihr Ohr zu leihen.

Irre ich nicht, so hat unsere neueste Poesie einen Anfang gemacht, aus der Dürre politischer und sozialer Tendenzreimerei in die frische, einfältige und wahrhaftige Natur zurückzukehren. Möge sie zur Einsicht gelangen, welch lebendige und reiche Quellen ihr auf dem Boden der heimatlichen Sage, dieser reinsten und tiefsten Volkspoesie, entgegensprudeln. (…)

Längst haben auch die „Ritter von Heute“ den Burgstall auf der Ketzelburg für sich entdeckt. Hier besucht „her christiân centgrave von framerspach“, ein Ministeriale der Grafen von Rieneck der Gruppe „milites theutonici“ die Ruine.Damit ist klar, wie die 1851 erschienene Sammlung Adalbert von Herrleins, in der erstmals die Sage von den „Drei Kreuzen“ überliefert ist, gesehen werden muss. Herrlein war 1835 bis 1864 Stadtoberhaupt von Aschaffenburg, und „nebenbei“ sammelte er die Spessartsagen. Er und weitere Bearbeiter in den folgenden Jahrzehnten zogen nun freilich nicht durch den Spessart und schrieben wortgetreu auf, was ihnen jemand erzählte. Eine solche Vorstellung wäre genauso falsch wie die, dass die Brüder Grimm sich die Märchen von alten Frauen hätten erzählen lassen. Märchensammler und Sagensammler haben ihre Texte auf höchst unterschiedliche Weise zusammengetragen und sie fast ausnahmslos stark bearbeitet, inhaltlich wie sprachlich. Wenn man Sagensammlungen des Spessarts genauer untersucht, dann wird man auch vielfach feststellen, dass Schriftgut und wissenschaftliche Geschichtsforschung, die im 19. Jh. immens produktiv ist, in sie hineingeflossen sind. Wie Herrlein und seine Nachfolger genau arbeiteten, ist ein Forschungsdesiderat, und aus Mangel an Quellen wird sich die „Wahrheit“ hinter den Spessartsagen oder besser gesagt das, was „der Volksmund“ tatsächlich wusste und sagte, nicht mehr herausfinden lassen. Schöppner konzediert Herrlein, „treu und volkstümlich erzählt“ zu haben – nachprüfen konnte er das natürlich nicht, und er hätte sich wohl gewundert. Auch wenn die Eingriffe vielleicht behutsamer waren als anderswo: eingegriffen wurde. Das Wissen um die Ketzelburg war selbstverständlich in Haibach nie verschwunden, es vermischte sich mit einer Geschichte, die noch heute in jeder Ausgabe eines Blattes der „Regenbogenpresse“ erscheinen könnte. Herrlein war historisch interessiert. 1857 veröffentlicht er „Aschaffenburg und seine Umgebung. Ein Handbuch für Fremde“, worin er auch über den „mittelalterlichen Burgstall“ bei Haibach schreibt und vermutet, die Auflassung habe mit einer möglichen Beteiligung des Burgherrn an Kreuzzügen zu tun.

Man sieht, wie hier plötzlich der Bußgang des Junkers zur Geschichte wird – vielleicht war es aber auch so, dass Geschichte zur Sage wurde. Sage und Geschichte stehen eben in einem „dubiosen“ Verhältnis zueinander, und man kann selten herausfinden, wie es um ihre Verwandtschaft bestellt ist. Ist aber auch egal: verwandt sind sie immerhin und ohnehin. Lassen wir es damit gut sein, wenigstens im Falle der Ketzelburg.

* Überarbeitete Fassung eines Artikels, veröffentlicht in Harald Rosmanitz, Die Ketzelburg in Haibach. Eine archäologisch-historische Spurensuche (Neustadt a. d. Aisch 2006), S. 27-32

  1. Stadt- und Stiftsarchiv Aschaffenburg, U 1276.
  2. Theodor Ruf, Zur Geschichte Haibachs von der Ersterwähnung bis zur Mitte des 16. Jahrhunderts. In: Renate Welsch u. Carsten Pollnick, Haibach 1187 – 1987 – 800 Jahre Ortsgeschichte (Haibach 1987), 44–53.
  3. Franz Großmann, Die Sagen von Haibach. Ausgabe anläßlich des 30jähr. Gründungsfestes des Spessartvereins Haibach (Haibach 1949), 3–6; Adalbert von Herrlein, Spessartsagen (Aschaffenburg 1885),1; Renate Welsch, Haibach im Wandel der Zeit – Ortsbild und örtliches Leben (Haibach 1987), 359–362.
  4. Theodor Ruf, Eine Sage, eine Urkunde von 1187, Spuren der verschwundenen Burg: Lassen sich daraus Hinweise auf Ereignisse und Zustände des Lebens einer Gemeinde gewinnen? Spessart. Monatszeitschrift für die Kulturlandschaft Spessart, Heft 5, 1987, 3–8.